Gesetzestext

 

(1) 1Das Gericht hat unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder für nicht wahr zu erachten sei. 2In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind.

(2) An gesetzliche Beweisregeln ist das Gericht nur in den durch dieses Gesetz bezeichneten Fällen gebunden.

A. Zweck.

 

Rn 1

Mit dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung enthält § 286 das zentrale Prinzip des Beweisrechts, das inzwischen als allgemeiner Grundsatz des Prozessrechts in allen Verfahrensordnungen enthalten ist (vgl § 261 StPO, § 108 I VwGO, § 128 I SGG, § 96 I FGO, § 84 S 1 ArbGG). Die freie Beweiswürdigung ist das Ergebnis einer langen geschichtlichen Entwicklung, in der es immer wieder ein Hin und Her zwischen Freiheit und Bindung des Richters bei der Beweiswürdigung gegeben hat (vgl dazu ausf Walter S 75 ff). Mit Ausnahme der in Abs 2 bezeichneten Beweisregeln ist der Richter nunmehr von jedem Zwang bei der Würdigung des Beweiswerts eines Beweismittels befreit. Auch den Parteien ist es verwehrt, durch entsprechende Vereinbarungen in die freie Beweiswürdigung des Gerichts einzugreifen (Rn 108). In § 286 I ist darüber hinaus das Beweismaß (Rn 23 ff) geregelt, dh die Frage, welches Grad an Überzeugung erforderlich ist, um eine tatsächliche Behauptung ›für wahr oder nicht für wahr zu erachten‹. In einem engen sachlichen Zusammenhang mit der Beweiswürdigung und in diesem Rahmen mit zu erörtern sind weitere Phänomene des Beweisrechts, nämlich der Anscheinsbeweis (Rn 28 ff), der Indizienbeweis (Rn 51 ff), der Beweis für das äußere Bild (Rn 53 ff), Beweislast und Behauptungslast (Rn 63 ff), die Beweisvereitelung (Rn 99 ff) sowie die Möglichkeit von Parteivereinbarungen mit beweisrechtlichen Bezügen (Rn 105 ff). Zum allgemeinen Beweisrecht s ferner § 284 Rn 1 ff.

B. Freie Beweiswürdigung.

I. Bedeutung.

 

Rn 2

Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung bedeutet, dass der Richter über den konkreten Beweiswert eines Beweismittels nach freier Überzeugung, dh grds ohne Bindung an gesetzliche Beweisregeln, befinden kann (R/S/G § 114 Rz 1). So ist er nicht gehindert, seine Überzeugung allein aus der Glaubhaftigkeit und Plausibilität des Klägervortrags herzuleiten (BVerfG NJW 17, 3218, 3220 [BVerfG 01.08.2017 - 2 BvR 3068/14] Rz 58; BGH MDR 18, 172 Rz 12 = Bespr Greger MDR 18, 328 [BGH 27.09.2017 - XII ZR 48/17]; Saarbr NJW-RR 11, 178, 179 [OLG Saarbrücken 08.06.2010 - 4 U 468/09-134]), einer Parteibehauptung mehr Glauben zu schenken als einem Zeugen oder einem Sachverständigen (BVerfG NJW 01, 2531, 2532 [BVerfG 21.02.2001 - 2 BvR 140/00]; BGH NJW 99, 363, 364 [BGH 16.07.1998 - I ZR 32/96]), das Ergebnis einer Anhörung nach § 141 höher zu bewerten als die Aussage des als Partei vernommenen Prozessgegners (BGH NJW 03, 2527, 2528 = BGHReport 03, 1105, 1106 [BGH 24.06.2003 - VI ZR 327/02] m Anm Laumen; Kobl MDR 17, 1301, 1302; KG NJW 18, 239 [KG Berlin 11.07.2017 - 21 U 100/16]) oder einer Zeugenaussage (vgl Karlsr NJW-RR 98, 789f [OLG Karlsruhe 14.11.1997 - 10 U 169/97]). Ihm steht es auch frei, trotz mehreren bestätigenden Zeugenaussagen das Gegenteil der entsprechenden Behauptungen als erwiesen zu erachten (KG MDR 04, 533 [KG Berlin 03.11.2003 - 22 U 136/03]; NJW-RR 10, 1113, 1114 [KG Berlin 19.10.2009 - 12 U 227/08]). Ganz allgemein darf er aus einer Beweisaufnahme und den sonstigen Verhandlungsstoff Schlussfolgerungen ziehen, an die die Parteien nicht gedacht haben oder von ihnen geleugnet werden (vgl Ddorf NJW 20, 1746 ff [BGH 26.02.2020 - IV ZR 235/19] m Anm Kemper/Kerkhoff bzgl Schwarzgeldabrede; aA insoweit KG NJW 17, 3792, 3794 [KG Berlin 08.08.2017 - 21 U 34/15] Rz 39). Eine rechtliche Bindung des Richters an die Ergebnisse eines Sachverständigengutachtens schließt § 286 I ebenfalls aus. Das Gesetz geht vielmehr davon aus, dass der Richter – trotz aller Schwierigkeiten im Einzelfall – durchaus in der Lage ist, sich über den Wert oder Unwert eines Sachverständigengutachtens ein eigenes Urt zu bilden (vgl BGH NJW 92, 2354, 2355 [BGH 07.04.1992 - VI ZR 216/91] für ein medizinisches Gutachten; BGH MDR 12, 1289, 1290 [BGH 22.08.2012 - XII ZB 141/12]; vgl auch den Fragenkatalog bei Laumen MDR 23, 149f). So hat er zB zu prüfen, ob dem Gutachten fehlerhafte juristische Vorstellungen des Sachverständigen zugrunde liegen (BGH NJW-RR 95, 914, 915), der Sachverständige von der zutreffenden Tatsachengrundlage ausgegangen ist, der Sachverständige über die erforderliche Sachkunde verfügt (zu Grundsatz der Fachgebietsgleichheit bei medizinischen Fragen BGH NJW 16, 3785 [BGH 31.05.2016 - VI ZR 305/15]; Dresd NJW-RR 22, 1468f) und er die vorgegebenen Anknüpfungstatsachen vollständig verwertet hat (BVerfG NJW 1995, 40 [BVerfG 11.10.1994 - 1 BvR 1398/93]).

 

Rn 3

Freilich darf der Richter sein eigenes Wissen nicht ohne weiteres an die Stelle der fachkundigen Aussage eines Sachverständigen setzen (BVerfG FamRZ 21, 1201, 1203 Rz 20; BG...

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