Gesetzestext
(1) Für Streitigkeiten aus einem Vertragsverhältnis und über dessen Bestehen ist das Gericht des Ortes zuständig, an dem die streitige Verpflichtung zu erfüllen ist.
(2) Eine Vereinbarung über den Erfüllungsort begründet die Zuständigkeit nur, wenn die Vertragsparteien Kaufleute, juristische Personen des öffentlichen Rechts oder öffentlich-rechtliche Sondervermögen sind.
A. Normgegenstand.
I. § 29 I.
Rn 1
Die Regelung begründet einen besonderen Gerichtsstand für Streitigkeiten aus einem Vertragsverhältnis und über dessen Bestehen am Erfüllungsort. Mit dem Erfüllungsort als Anknüpfungspunkt für die örtliche Zuständigkeit stellt § 29 I in bewusster Abkehr vom Schutzzweck des § 12 (vgl § 12 Rn 1) den Gedanken des Sachzusammenhangs zwischen dem Vertragsverhältnis nach materiellem Recht und dem Rechtsstreit iSd Prozessrechts in den Vordergrund. Es soll sichergestellt werden, dass das Gericht entscheiden kann, das einen unmittelbaren sachlichen Bezug zu dem Rechtsstreit hat, weil die str Verpflichtung in seinem Gerichtsbezirk zu erfüllen ist (vgl LG Kiel NJW 89, 841 [LG Kiel 18.08.1988 - 15 O 111/88]; Musielak/Voit/Heinrich Rz 1; krit Fehrenbach ZZP 129, 295, 318 f mwN). Die Bedeutung dieses Normzwecks relativiert sich allerdings, wenn man berücksichtigt, dass der Erfüllungsort iSd § 29 I oftmals mit dem Wohnsitz des Schuldners, also mit dem allg Gerichtsstand des Bekl iSd § 12, zusammenfällt (s näher Rn 13).
II. § 29 II.
Rn 2
Die Vorschrift enthält eine prozessuale Beschränkung der Rechtswirkungen einer Vereinbarung über den Erfüllungsort (vgl BGHZ 157, 20, 27; näher Rn 16; vgl auch § 38). Sie bezweckt den Schutz rechtlich unkundiger bzw geschäftlich ungewandter Schuldner, denen kein Gerichtsstand aufgedrängt werden soll (BTDrs 7/268, 1, 5; Musielak/Voit/Heinrich Rz 2) und dient zugleich der Umsetzung der RL (EU) 2020/1828 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25.11.20 über Verbandsklagen zum Schutz der Kollektivinteressen der Verbraucher und zur Aufhebung der Richtlinie 2009/22/EG (vgl die entsprechende Bekanntmachung v 1.11.23, BGBl I 296).
B. Gerichtsstand des gesetzlichen Erfüllungsortes (§ 29 I).
I. Anwendungsbereich.
Rn 3
§ 29 I ist als besondere Gerichtsstandsregelung neben den allg oder besonderen Gerichtsständen (zB dem besonderen Gerichtsstand des Zahlungsortes bei Wechsel- und Scheckklagen, §§ 603, 605a) anwendbar und wird durch ausschl Gerichtsstände verdrängt, so etwa durch §§ 29a, 29c, § 1005 (s näher § 12 Rn 5, 8). Er gilt für alle Personen. Die Zuständigkeit nach § 29 I besteht unabhängig davon, ob aus originärem oder abgeleitetem Recht geklagt wird (vgl Zö/Schultzky Rz 7; Musielak/Voit/Heinrich Rz 3; für die Gesamtrechtsnachfolge s.a. BayObLG NJW-RR 06, 15, 16 [BayObLG 04.08.2005 - 1 Z AR 145/05]; Karlsr 21.4.16 – 209 AR 2/16; vgl auch § 27). Sie gilt auch für den begünstigten Dritten aus einem Vertrag zugunsten Dritter nach § 328 BGB (Musielak/Voit/Heinrich Rz 3; MüKoZPO/Patzina Rz 11).
1. Vertragsverhältnis.
a) Schuldrechtliche Verpflichtungsverträge.
Rn 4
Das Erfordernis ›aus einem Vertragsverhältnis‹ ist weit auszulegen und schon dann erfüllt, wenn die Streitigkeit im Zusammenhang mit einem Vertrag steht und aus dem Vertragsverhältnis herrührt (BGHZ 188, 85 Tz 26 mwN). Deshalb werden von § 29 nicht nur alle Ansprüche aus schuldrechtlichen Verpflichtungsverträgen erfasst (BGHZ 132, 105, 109), sondern auch gesetzliche Ansprüche auf vertraglicher Grundlage (BGHZ 188, 85 Tz 26). § 29 gilt auch bei öffentlich-rechtlichen Verträgen, bei denen allerdings grds der Verwaltungsrechtsweg nach § 40 I VwGO eröffnet ist (vgl Zö/Schultzky Rz 5; Musielak/Voit/Heinrich Rz 3). Da auch der Auseinandersetzungsvertrag bei der Erbengemeinschaft eine schuldrechtliche Verpflichtung enthält, die klageweise durchgesetzt werden kann (vgl nur Grüneberg/Edenhofer § 2042 Rz 10, 18 f), ist § 29 neben § 27 anwendbar (vgl St/J/Roth Rz 8; Musielak/Voit/Heinrich Rz 6; aA Zö/Schultzky Rz 11; s.a. Rn 10).
b) Vertragsähnliche Sonderbeziehungen.
Rn 5
Nach allgM gilt § 29 jedenfalls in analoger Anwendung auch für vertragsähnliche Sonderbeziehungen (vgl KGR 05, 723 f; Zö/Schultzky Rz 6; Musielak/Voit/Heinrich Rz 4). Eine solche vertragsähnliche Sonderbeziehung wird angenommen bei der culpa in contrahendo, was nunmehr auch durch die gesetzliche Regelung in den §§ 311 II, 241 II BGB bestätigt wird (hM; BayObLG VersR 85, 741, 743; NJW-RR 03, 1503; JZ 21, 1174; München VersR 09, 1382 f; Zö/Schultzky Rz 6; St/J/Roth Rz 5, 18; MüKoZPO/Patzina Rz 11; ThoPu/Hüßtege Rz 4; Musielak/Voit/Heinrich Rz 4; s.a. Rn 14 ›Nebenpflichten‹), bei der Haftung des Vertreters ohne Vertretungsmacht nach § 179 I BGB (Hambg MDR 75, 227; ThoPu/Hüßtege Rz 3; Zö/Schultzky Rz 6; Musielak/Voit/Heinrich Rz 4), bei der Haftung nach § 128 HGB aF (jetzt § 126 HGB), was auch für die GbR gilt (vgl BayObLG MDR 02, 1360 [BayObLG 09.09.2002 - 1 Z AR 116/02]; Schlesw BB 04, 462 f; Hamm 11.6.19 – 32 SA 32/19; Musielak/Voit/Heinrich Rz 5; Zö/Schultzky Rz 6, 25 ›Handelsgesellschaft und GbR‹), nach § 130a Abs 1 u Abs 2 S 1 HGB aF (BGH WM 19, 1649; vgl jetzt § 15a InsO) und nach den §§ 161, 171 HGB (BayObLGZ 80, 13 ff; Schlesw BB 04, 462 f [OLG Schleswig 11.08.2003 - 2 W 128/03]; Hamm 11.6.19 – 32 SA 32/...