Rn 5

Die Offenkundigkeit einer Tatsache lässt ihre Beweisbedürftigkeit entfallen. Es findet weder ein Beweisverfahren noch eine Beweiswürdigung statt. Eine offenkundige Tatsache kann auch nicht wirksam bestritten oder ihr Gegenteil zugestanden werden (§ 288 Rn 2). Unberührt bleiben aber die Regeln über die Verteilung der objektiven Beweislast. Außerdem ist jederzeit der Beweis des Gegenteils bzw der Gegenbeweis gegen eine als offenkundig behauptete Tatsache möglich (BVerfG NJW 21, 50 Rz 15 ff; BGHZ 156, 250, 253 = NJW 04, 1163, 1164; BayVerfGH FamRZ 11, 655, 656; aA Zö/Greger Rz 4). Die Art der Beweisführung ist davon abhängig, welche Partei an sich die objektive Beweislast für das Vorhandensein der offenkundigen Tatsache trägt (vgl MüKoZPO/Prütting Rz 19). Obliegt sie der durch die Annahme der Offenkundigkeit begünstigten Partei, braucht die Gegenpartei nur den Gegenbeweis zu führen, dh Tatsachen darlegen und ggf beweisen, die geeignet sind, die Überzeugung des Gerichts von der Offenkundigkeit zu erschüttern (vgl den Fall BGH NJW-RR 90, 1376 [BGH 29.03.1990 - I ZR 74/88]; s. dazu auch Oberheim Rz 1652). Gelingt dieser Beweis, ist es Sache der begünstigten Partei, den vollen Beweis für den Inhalt der angeblich offenkundigen Tatsache zu führen. Trägt dagegen die Gegenpartei die objektive Beweislast, so muss sie den Beweis des Gegenteils erbringen, dh zur vollen Überzeugung des Gerichts beweisen, dass die angeblich offenkundige Tatsache unwahr ist. Ist eine Tatsache allgemeinkundig, aber dem Gericht nicht bekannt, ist im Einzelfall auch eine Beweiserhebung über die Offenkundigkeit denkbar, wobei als Beweismittel insb ein Sachverständigengutachten in Betracht kommt (R/S/G § 113 Rz 28). Darüber hinaus ist im Einzelfall auch eine Beweisaufnahme über die Gerichtskundigkeit einer Tatsache möglich (vgl BVerfG NJW-RR 96, 183, 184 [BVerfG 29.08.1995 - 2 BvR 175/95]; MDR 20, 1524, 1525 [BVerfG 17.09.2020 - 2 BvR 1605/16] Rz 19).

 

Rn 6

Nicht einheitlich wird seit jeher die Frage beantwortet, ob es trotz des Wegfalls der Beweisbedürftigkeit einer offenkundigen Tatsache noch einer entsprechenden Behauptung bedarf, maW ob das Gericht eine offenkundige Tatsache auch ohne entsprechenden Parteivortrag seiner Entscheidung zugrunde legen darf. Dies wird von einer verbreiteten Auffassung im Hinblick auf die im Zivilprozess geltende Verhandlungsmaxime verneint (BAG NJW 77, 695; Frankf NJW-RR 23, 48, 49 [OLG Frankfurt am Main 09.06.2022 - 6 U 134/21] Rz 23; St/J/Thole Rz 11 mwN). Dagegen spricht jedoch, dass den Parteien nicht die Befugnis eingeräumt werden darf, dem Gericht durch das Unterlassen entsprechender Behauptungen offenkundige Tatsachen als Entscheidungsgrundlage zu entziehen (ausf MüKoZPO/Prütting Rz 13). Wie beim Geständnis (§ 288 Rn 8) und beim Nichtbestreiten von Tatsachen muss eine Dispositionsfreiheit der Parteien auch iRd § 291 ausscheiden, wenn es um offenkundige Tatsachen geht. Mit der heute hM ist deshalb davon auszugehen, dass das Gericht eine offenkundige Tatsache auch ohne entsprechende Behauptung durch die Parteien in den Prozess einführen und seiner Entscheidung zugrunde legen darf (BSG NJW 79, 1063; Frankf MDR 77, 849; AG Tempelhof FamRZ 05, 1260, 1261; R/S/G § 113 Rz 24). In der Praxis kommt dieser Streitfrage allerdings kaum Bedeutung zu. Führt das Gericht eine offenkundige Tatsache in den Prozess ein, wird sich nämlich die dadurch begünstigte Partei die betreffende Tatsache zumindest stillschweigend zu Eigen machen. Davon kann bereits dann ausgegangen werden, wenn die offenkundige Tatsache für eine Partei günstig ist und zu ihrem bisherigen Vortrag nicht in Widerspruch steht (vgl BGH NJW-RR 95, 684, 685 [BGH 17.01.1995 - X ZR 88/93]).

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