Gesetzestext
1Das in einem anderen Staat geltende Recht, die Gewohnheitsrechte und Statuten bedürfen des Beweises nur insofern, als sie dem Gericht unbekannt sind. 2Bei Ermittlung dieser Rechtsnormen ist das Gericht auf die von den Parteien beigebrachten Nachweise nicht beschränkt; es ist befugt, auch andere Erkenntnisquellen zu benutzen und zum Zwecke einer solchen Benutzung das Erforderliche anzuordnen.
A. Zweck.
Rn 1
Rechtssätze können grds nicht Gegenstand des Beweises sein. Das Gesetz geht davon aus, dass der Richter das geltende Recht kennt oder, wenn es ihm nicht bekannt ist, vAw ermittelt (iura novit curia). Dazu gehört nicht nur das gesamte inländische Gesetzesrecht einschließlich des internationalen Privatrechts (BGH NJW 96, 54 [BGH 21.09.1995 - VII ZR 248/94]), des internationalen Verfahrensrechts (BGH NJW 92, 3106 [BGH 08.05.1992 - V ZR 95/91]), des Steuerrechts und des Rechts der ehemaligen DDR (St/J/Thole Rz 7), sondern auch das Recht der Europäischen Gemeinschaften (BGH NJW 19, 3374, 3375 Rz 22; MüKoZPO/Prütting Rz 9), die in das innerstaatliche Recht transformierten Normen des Völkervertragsrechts (Art 59 II GG) sowie die allgemeinen Regeln des Völkerrechts (Art 25 S 1 GG). Von diesem Grundsatz macht § 293 eine Ausnahme für Rechtssätze, deren Kenntnis vom Gericht üblicherweise nicht ohne weiteres verlangt werden kann. Für diese Rechtssätze wird damit die Möglichkeit einer Beweiserhebung eröffnet, dh sie sind wie Tatsachen Gegenstand des Beweises, wenn und soweit sie dem Gericht tatsächlich unbekannt sind (S 1). Die auf diese Weise ermittelten Rechtssätze werden dadurch aber nicht etwa zu Tatsachen (BGH FamRZ 08, 586, 590 Rz 37; Spickhoff ZZP 112, 265, 286 ff; aA offenbar BVerwG NJW 12, 3461, 3462 Rz 16; krit auch Stamm FS Klamaris 16, 769, 772 ff). Die gerichtliche Ermittlungspflicht bezieht sich im Anwendungsbereich des § 293 auch nur auf Rechtsfragen und nicht auf entscheidungserhebliche Tatsachen (BGH MDR 19, 1303 [BGH 25.06.2019 - X ZR 166/18] Rz 25). Für diese gelten die allgemeinen Anforderungen an die Behauptungs- und Beweislast. Trägt deshalb etwa eine Partei lediglich allg vor, ein eingetretener Schaden beruhe auf der Verletzung ausländischer Sicherheitsvorschriften, reicht das zur Substanziierung nicht aus. Erforderlich ist vielmehr die Darlegung konkreter Handlungen oder Zustände, durch die eine ausländische Sicherheitsvorschrift verletzt worden sein soll (BGH aaO).
B. Anwendungsbereich.
I. Ausländisches Recht.
Rn 2
Das sind alle Rechtssätze, die in keinem Teil der Bundesrepublik gelten. Neben dem ausländischen Gewohnheits- und Statuarrecht gehören dazu auch die von ausländischen Gerichten entwickelten Regelungswerke wie Unterhaltstabellen oä. Gegenstand der Ermittlungen können außerdem auch die Auslegung und die Anwendung der ausländischen Rechtssätze durch die Gerichte des jeweiligen Landes sein.
II. Gewohnheitsrecht.
Rn 3
Gewohnheitsrecht ist das durch ständige Übung angewandte und von der Überzeugung der Rechtmäßigkeit und Notwendigkeit getragene ungeschriebene und nicht auf einem Rechtssetzungsakt beruhende Recht (BGHZ 236, 123, 130 Rz 18 = NJW-RR 23, 546, 547). Dazu gehört auch die sog Observanz als örtlich begrenztes Gewohnheitsrecht. Nicht zum Gewohnheitsrecht zählen Erfahrungssätze, Verkehrssitten und Handelsbräuche, weil es sich nicht um Rechtsnormen handelt (MüKoZPO/Prütting Rz 20; weitergehend Oestmann JZ 03, 285, 287 ff).
III. Statuten.
Rn 4
Statuten sind autonome Satzungen von öffentlich-rechtlichen Körperschaften, Anstalten und Stiftungen (einschränkend St/J/Thole Rz 26, der den Begriff heute für gegenstandslos hält; aA auch Feurer ZZP 123, 427, 431 ff: diese Rechtssätze seien unschwer aus Amtsblättern feststellbar). Dazu gehören ua Ortsatzungen über Kehr- und Streupflichten, Bebauungspläne (BGH NJW-RR 95, 1296, 1297 [BGH 21.04.1995 - V ZR 63/94]), Satzungen von Berufsverbänden und Universitäten sowie ferner Tarifverträge (BAGE 39, 321, 328 [BAG 25.08.1982 - 4 AZR 1064/79]; zust insoweit auch Feurer aaO S 432), die zwar auf einer privatrechtlichen Einigung beruhen, aber vom Gesetzgeber mit Rechtsnormqualität ausgestattet worden sind. Rein privatrechtliche Vereinbarungen wie Individualverträge, Allgemeine Geschäftsbedingungen oder Vereinssatzungen fallen jedoch nicht unter § 293 (aA Feurer aaO S 431 ff: alle privat gesetzten Rechtsnormen).
IV. Analoge Anwendung.
Rn 5
Eine entsprechende Anwendung des § 293 ist insb bei nicht mehr geltenden Rechtssätzen gerechtfertigt. Entgegen der hM (Nickl NJW 89, 2091, 2093) kommt sie im Einzelfall auch bei schwierigen steuerrechtlichen Fragen in Betracht (wohl auch BGHZ 140, 111, 113 = NJW 99, 638). Das Steuerrecht ist in Teilen so unübersichtlich geworden, dass es von einem Zivilrichter kaum mehr sachgerecht zu handhaben ist. In Betracht kommt insoweit auch die Einholung einer amtlichen Auskunft der Finanzverwaltung (Stuttg MDR 89, 1111).
C. Art und Umfang der Ermittlungen.
Rn 6
Sind dem Richter die in S 1 genannten Rechtssätze aus seiner Praxis bekannt – etwa in Scheidungsverfahren häufig anzuwendende ausländische Vorschriften – bedarf es keines besonderen Beweisverfahrens. Das Gericht kann dann ...