Prof. Dr. Christoph Thole
Rn 9
Der Erlass des Vorbehaltsurteils steht im Ermessen des Gerichts (›kann‹). Eine Antragspflicht oder ein Antragsrecht der Parteien kennt das Gesetz nicht. Eine Parteivereinbarung über einen Ausschluss des Vorbehaltsurteils soll unzulässig sein (BGH LM § 355 HGB Nr 12; Zö/Feskorn Rz 6a), das ist bedenkenswert, aber wohl eher Ausdruck überholter öffentlich-rechtlicher Denkmuster. Das Vorbehaltsurteil ist rechtsfehlerhaft, wenn das Gericht sein Ermessen nach Abs 1 nicht erkannt und ausgeübt hat (BGHZ 165, 134, 136). Das Ermessen kann allerdings durch das Berufungsgericht als zweite Tatsacheninstanz nachgeholt werden (Schlesw OLGR Schlesw 07, 277). Das Ermessen ist daher pflichtgebunden auszuüben und auf Ermessensfehler überprüfbar (aA ThoPu/Reichold Rz 6). Die Art und Weise der Ermessensausübung ist durch die Gegenforderung und den Zweck, den Kl vor einer unberechtigten Verzögerung des Rechtsstreits zu schützen, vorgegeben (BGHZ 165, 134, 136). Auch in der Neufassung des § 302 überschreitet der Richter die Grenzen idR, wenn er trotz Aufrechnung mit Ansprüchen auf Ersatz von Mängelbeseitigungskosten über den Werklohnanspruch des Bestellers durch Vorbehaltsurteil entscheidet. Ein Vorbehaltsurteil kommt in diesem Fall nur in Betracht, wenn die Gegenansprüche nach den bisher vorliegenden Beweisergebnissen oder dem Vorbringen der Parteien geringe Aussicht auf Erfolg haben und es nach einer Gesamtabwägung der Umstände angemessen erscheint, dem Besteller die rasche Vollstreckungsmöglichkeit zu eröffnen (ebenso Schlesw OLGR Schlesw 07, 277; Oldbg IBR 08, 552 [OLG Oldenburg 03.07.2008 - 8 U 64/08]). Darüber hinaus will das KG den Erlass eines Vorbehaltsurteils bei konnexen Gegenforderungen zwecks Strukturierung des Rechtsstreits gestatten, wenn damit keine Verbesserung der Rechtsdurchsetzung für den Kl verbunden ist (KG NZBau 18, 533 [KG Berlin 16.02.2018 - 21 U 66/16]).
Rn 10
Bei inkonnexen Gegenforderungen sollen diese Grundsätze aber nicht gelten, zB bei der Aufrechnung wegen Verzugsschaden oder mit Forderungen aus anderen Rechtsbeziehungen (BGHZ 165, 134, 139). Der BGH spricht insoweit weiter von ›freiem Ermessen‹ (wie § 302 aF), doch muss die Überprüfung auf Ermessensfehler auch hier gelten, wenn man die Unterscheidung zwischen konnexen und inkonnexen Gegenforderungen nicht ›auf kaltem Wege‹ wieder einführen will (im Erg wohl auch Zö/Feskorn Rz 6). Macht der Beklagte den die Klageforderung übersteigenden Teil der Gegenforderung in einer Widerklage geltend, wird sich ein Vorbehaltsurteil idR nicht empfehlen. Die nach Abs 4 S 2 zu leistende Sicherheit kann ein Argument für den Erlass des Vorbehaltsurteils sein (Schlesw MDR 06, 707). Erlässt das Gericht kein Vorbehaltsurteil, kommen eine Verfahrensaussetzung (§ 148) oder die getrennte Verhandlung (§ 145 III) in Betracht. In den Fällen der Rn 6 kann der Erlass des Vorbehaltsurteils in Verbindung mit der Aussetzung des Nachverfahrens geboten sein, so bei der Aufrechnung mit eigenen Unterhaltsansprüchen gegen den Anspruch eines Ehegatten auf Zahlung von Nutzungsentschädigung für ein gemeinsames Haus (Ddorf FamRZ 87, 706, 707). Die Aussetzung eines Rechtsstreits wegen Vorgreiflichkeit eines anderweitigen Rechtsstreits im Hinblick auf eine Aufrechnungsforderung ist ermessensfehlerhaft, wenn sich der Erlass eines Vorbehaltsurteils nach § 302 aufdrängt, da der Kl auf die begehrte Leistung angewiesen ist (Schlesw MDR 06, 707: Krankenhaustagegeld). Der Erlass des Vorbehaltsurteils ist nicht willkürlich, wenn das Gericht diese Verfahrensweise mit nachvollziehbaren sachlichen Gründen beschieden und sich mit der Rspr des BGH auseinandergesetzt hat (BGH BauR 11, 720 Rz 9); Willkür folgt insoweit nicht aus dem damit herbeigeführten Unterschreiten der Wertgrenze für die NZB.