Prof. Dr. Christoph Thole
I. Grundsätze.
Rn 3
Das Gericht ist an den Sachantrag der Partei gebunden. Das gilt ausweislich von Abs 1 S 2 auch für Anträge betreffend Früchte, Zinsen und sonstige Nebenforderungen. Ein vorangegangener Beschl über die Gewährung von PKH bestimmt nicht den Urteilsumfang; die im Prozess gestellten Anträge sind allein entscheidend (Anders/Gehle/Hunke ZPO Rz 1). Maßgebend ist das in der Klage zum Ausdruck gebrachte Begehren; daher liegt kein Verstoß gegen Abs 1 vor, wenn das Gericht die gesamtschuldnerische Haftung der Beklagten anordnet, obwohl dies nur in der Klagebegründung und nicht explizit im Antrag zum Ausdruck gebracht worden ist (Zö/Feskorn Rz 3). Das Gericht darf aber nicht am buchstäblichen Sinne des Antrags stehen bleiben (BGH ZUM-RD 21, 466 Rz 12).
Rn 4
Die Bindung besteht sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht. Das Gericht ist nicht berechtigt, über den Antrag hinauszugehen; und die dem Kl zugesprochene Rechtsfolge darf sich nicht als ein ›aliud‹ ggü der beantragten Verurteilung darstellen. Stellt der Kl allerdings einen unbezifferten Zahlungsantrag (§ 253 Rn 18), deckt die Angabe eines Mindestbetrags auch eine darüber hinausgehende Verurteilung des Beklagten (BGHZ 132, 341, 350 ff = NJW 96, 2425, 2427; zur Rechtsmittelbeschwer aber BGHZ 140, 335 = NJW 99, 1339 f). Die Antragsbindung erfasst grds nicht die rechtliche Begründung (Frankf NJW-RR 15, 999, 1002; Zö/Feskorn Rz 5). Aus diesem Grund ist das Gericht nicht daran gehindert, bei der Überprüfung einzelner AGB-Klauseln andere Kautelen als Argumentationshilfe in die Prüfung der streitgegenständlichen Klauseln einzubeziehen (BGHZ 106, 259, 263 = NJW 89, 582). Daher stellt es auch keinen Verstoß gegen Abs 1 dar, wenn sich das Gericht bei mehreren denkbaren materiell-rechtlichen Anspruchsgrundlagen auf einen materiellen Anspruch stützt. Maßgebend für die Prüfung, ob sich das Urt als aliud ggü dem Sachantrag darstellt, ist allein der zur Entscheidung gestellte prozessuale Anspruch. Die Abgrenzungskritierien zur Bestimmung des Streitgegenstands schlagen damit auf § 308 durch (näher § 253 Rn 18).
II. Hinausgehen über den Antrag (›Mehr‹) oder qualitative Abweichung vom gestellten Antrag (›Aliud‹).
Rn 5
Abs 1 wird verletzt, wenn das Gericht einen Streitgegenstand mit einem anderen, nicht – oder nicht mehr (dazu BGH BeckRS 19, 11565 Rz 6) – zur Entscheidung gestellten ›austauscht‹ oder dem Kl einen prozessualen Anspruch aberkennt, den er nicht oder nicht mehr zur Entscheidung gestellt hat (BGH NJW 91, 1683, 1684; BAG BeckRS 16, 71129), so wenn der Kl in 1. Instanz trotz einheitlichem Klageziel Ansprüche aus eigenem und fremden Recht geltend gemacht hatte und in der Rechtsmittelinstanz nur noch einen der beiden Streitgegenstände weiterverfolgt (BGH NJW-RR 91, 1683). Das Hinausgehen über unbezifferte Klageanträgen bei Schmerzensgeld ist zulässig, solange der Kläger bei Angabe einer Größenordnung damit – wie meist – keine klare Obergrenze verbunden hat (Hamm NJW-RR 17, 1124 [OLG Hamm 20.02.2017 - 3 U 138/15] Rz 44). Auch kann eine Klage nicht auf Grund beiderseitiger Tarifgebundenheit abgewiesen werden, wenn der geltend gemachte Anspruch nicht auf die Tarifgebundenheit gestützt wurde (BAG NZA 15, 1388, 1391; BeckRS 16, 71129) oder die Klage wegen eines Anspruchs aus einer Betriebsvereinbarung abgewiesen werden, wenn die Partei zuvor nicht geltend gemacht hatte, in den Anwendungsbereich der Betriebsvereinbarung zu fallen (BAG NZA 15, 438, 440 [BAG 09.12.2014 - 1 AZR 146/13]). Es ist grds zulässig, wenn das Gericht bei einem einheitlichen Streitgegenstand die einzelnen unselbstständigen Posten der Höhe nach verschiebt, ganz kürzt oder bei einzelnen Rechnungsposten sogar über das Geforderte hinausgeht, solange der geltend gemachte Endbetrag nicht überschritten wird (BGH NJOZ 22, 1069 Rz 6; NJW-RR 91, 1279 [BGH 22.11.1990 - IX ZR 73/90]; BAG NZA-RR 10, 565, 566 [BAG 22.10.2009 - 8 AZR 865/08]; St/J/Althammer § 308 Rz 6; Zö/Feskorn Rz 4) Ein Verstoß gegen Abs 1 liegt jedoch vor, wenn der Kl einen auf konkrete Rechtsverletzungen gestützten Zahlungsanspruch geltend macht und das Gericht einen ungeklärt gebliebenen Teil mit Beträgen ›auffüllt‹, die einem noch nicht bezifferten Zahlungsanspruch einer Stufenklage entnommen werden (BGH NJW-RR 90, 997, 998 [BGH 16.11.1989 - I ZR 15/88]), oder wenn es sonst eine unbegründete Forderung durch eine nicht geltend gemachte Forderung ›ersetzt‹ (BGH NJOZ 22, 1069 Rz 6; BeckRS 19, 4305 Rz 19; auch zum Verhältnis Erfüllungs- und Schadensersatzanspruch LAG Köln BeckRS 19, 9980 Rz 59). Die vollständige und die tw Entziehung der Geschäftsführungs- und Vertretungsbefugnis eines Gesellschafters sind verschiedene Streitgegenstände, deshalb keine Teilentziehung, wenn der Antrag auf vollständige Entziehung gerichtet ist (BGH NJW-RR 02, 540 f [BGH 10.12.2001 - II ZR 139/00]).
Das Gericht verstößt gegen Abs 1, wenn es seinem Urteilsausspruch über einen Unterlassungsantrag einen anderen Klagegrund zu Grunde legt als denjenigen, mit dem der Kl seinen Antrag begründet hat (BGHZ 154, 342, 347 f = NJW 03, 2317, 2318), gleichermaßen, wenn de...