Prof. Dr. Christoph Thole
Gesetzestext
(1) 1Das Gericht ist nicht befugt, einer Partei etwas zuzusprechen, was nicht beantragt ist. 2Dies gilt insbesondere von Früchten, Zinsen und anderen Nebenforderungen.
(2) Über die Verpflichtung, die Prozesskosten zu tragen, hat das Gericht auch ohne Antrag zu erkennen.
A. Normzweck und Grundlagen.
Rn 1
Die Vorschrift enthält den bekannten Grundsatz ›ne (eat judex) ultra petita partium‹, kurz: ohne Antrag keine Verurteilung. Dieses Prinzip trägt der Parteiherrschaft und Dispositionsmaxime Rechnung. Da der im Urt wiedergegebene Antrag und der zugrunde liegende Sachverhalt den Streitgegenstand kennzeichnen, trägt die Antragsbindung mittelbar auch zur Eindeutigkeit der Rechtskraft bei (Köln NJW-RR 95, 1535, 1536). Das Gericht darf und muss aber auf sachdienliche Anträge hinwirken und ist an die wörtliche Fassung des Sachantrags nicht gebunden (§ 139 Rn 9); die Auslegung des Parteibegehrens anhand des Parteivortrags geht Abs 1 vor (vgl BGH NJW-RR 97, 1000, 1001 [BGH 18.12.1996 - IV ZR 60/96]; Musielak/Musielak Rz 7).
Rn 2
Auf dieser Grundlage darf das Gericht einer Partei nicht etwas zusprechen, was nicht beantragt ist. Umgekehrt ist es dem Gericht verwehrt, einer Partei einen Anspruch abzuerkennen, den sie nicht oder nicht mehr zur Entscheidung gestellt hat (BGH NJW 91, 1683, 1684). Von der Antragsbindung unberührt bleibt gem Abs 2 die Entscheidung über die Prozesskosten; ferner auch der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit (§ 708). Vollstreckungsschutz ist nach § 712 auch ohne Antrag zu gewähren. § 308a geht als Sonderregelung vor, ebenso § 641h aF, § 182 FamFG nF und § 9 Nr 3, 4 UKlaG. Für die Berufungsinstanz normiert § 528 S 2 eine besondere Ausprägung des ultra petita-Grundsatz in der Gestalt eines Verschlechterungsverbotes; ebenso § 557 I für die Revision. Darüber hinaus gilt § 308 als grundlegendes zivilprozessuales Prinzip in einer Vielzahl von Verfahrensarten (unten Rn 12).
B. Antragsbindung (Abs 1).
I. Grundsätze.
Rn 3
Das Gericht ist an den Sachantrag der Partei gebunden. Das gilt ausweislich von Abs 1 S 2 auch für Anträge betreffend Früchte, Zinsen und sonstige Nebenforderungen. Ein vorangegangener Beschl über die Gewährung von PKH bestimmt nicht den Urteilsumfang; die im Prozess gestellten Anträge sind allein entscheidend (Anders/Gehle/Hunke ZPO Rz 1). Maßgebend ist das in der Klage zum Ausdruck gebrachte Begehren; daher liegt kein Verstoß gegen Abs 1 vor, wenn das Gericht die gesamtschuldnerische Haftung der Beklagten anordnet, obwohl dies nur in der Klagebegründung und nicht explizit im Antrag zum Ausdruck gebracht worden ist (Zö/Feskorn Rz 3). Das Gericht darf aber nicht am buchstäblichen Sinne des Antrags stehen bleiben (BGH ZUM-RD 21, 466 Rz 12).
Rn 4
Die Bindung besteht sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht. Das Gericht ist nicht berechtigt, über den Antrag hinauszugehen; und die dem Kl zugesprochene Rechtsfolge darf sich nicht als ein ›aliud‹ ggü der beantragten Verurteilung darstellen. Stellt der Kl allerdings einen unbezifferten Zahlungsantrag (§ 253 Rn 18), deckt die Angabe eines Mindestbetrags auch eine darüber hinausgehende Verurteilung des Beklagten (BGHZ 132, 341, 350 ff = NJW 96, 2425, 2427; zur Rechtsmittelbeschwer aber BGHZ 140, 335 = NJW 99, 1339 f). Die Antragsbindung erfasst grds nicht die rechtliche Begründung (Frankf NJW-RR 15, 999, 1002; Zö/Feskorn Rz 5). Aus diesem Grund ist das Gericht nicht daran gehindert, bei der Überprüfung einzelner AGB-Klauseln andere Kautelen als Argumentationshilfe in die Prüfung der streitgegenständlichen Klauseln einzubeziehen (BGHZ 106, 259, 263 = NJW 89, 582). Daher stellt es auch keinen Verstoß gegen Abs 1 dar, wenn sich das Gericht bei mehreren denkbaren materiell-rechtlichen Anspruchsgrundlagen auf einen materiellen Anspruch stützt. Maßgebend für die Prüfung, ob sich das Urt als aliud ggü dem Sachantrag darstellt, ist allein der zur Entscheidung gestellte prozessuale Anspruch. Die Abgrenzungskritierien zur Bestimmung des Streitgegenstands schlagen damit auf § 308 durch (näher § 253 Rn 18).
II. Hinausgehen über den Antrag (›Mehr‹) oder qualitative Abweichung vom gestellten Antrag (›Aliud‹).
Rn 5
Abs 1 wird verletzt, wenn das Gericht einen Streitgegenstand mit einem anderen, nicht – oder nicht mehr (dazu BGH BeckRS 19, 11565 Rz 6) – zur Entscheidung gestellten ›austauscht‹ oder dem Kl einen prozessualen Anspruch aberkennt, den er nicht oder nicht mehr zur Entscheidung gestellt hat (BGH NJW 91, 1683, 1684; BAG BeckRS 16, 71129), so wenn der Kl in 1. Instanz trotz einheitlichem Klageziel Ansprüche aus eigenem und fremden Recht geltend gemacht hatte und in der Rechtsmittelinstanz nur noch einen der beiden Streitgegenstände weiterverfolgt (BGH NJW-RR 91, 1683). Das Hinausgehen über unbezifferte Klageanträgen bei Schmerzensgeld ist zulässig, solange der Kläger bei Angabe einer Größenordnung damit – wie meist – keine klare Obergrenze verbunden hat (Hamm NJW-RR 17, 1124 [OLG Hamm 20.02.2017 - 3 U 138/15] Rz 44). Auch kann eine Klage nicht auf Grund beiderseitiger Tarifgebundenheit abgewiesen werden, wenn der geltend gemachte Anspruch nicht auf die Tarifgebundenheit gestützt wurde (BAG NZA 15, 1388, ...