Prof. Dr. Christoph Thole
Gesetzestext
(1) Das Urteil ergeht im Namen des Volkes.
(2) 1Das Urteil wird durch Vorlesung der Urteilsformel verkündet. 2Die Vorlesung der Urteilsformel kann durch eine Bezugnahme auf die Urteilsformel ersetzt werden, wenn bei der Verkündung von den Parteien niemand erschienen ist. 3Versäumnisurteile, Urteile, die auf Grund eines Anerkenntnisses erlassen werden, sowie Urteile, welche die Folge der Zurücknahme der Klage oder des Verzichts auf den Klageanspruch aussprechen, können verkündet werden, auch wenn die Urteilsformel noch nicht schriftlich abgefasst ist.
(3) Die Entscheidungsgründe werden, wenn es für angemessen erachtet wird, durch Vorlesung der Gründe oder durch mündliche Mitteilung des wesentlichen Inhalts verkündet.
(4) Wird das Urteil nicht in dem Termin verkündet, in dem die mündliche Verhandlung geschlossen wird, so kann es der Vorsitzende in Abwesenheit der anderen Mitglieder des Prozessgerichts verkünden.
A. Normzweck.
Rn 1
Wie § 310 und § 312 gehört die Vorschrift zu den Regelungen über die Modalitäten der Urteilsverkündung. Abs 2 erklärt die Vorlesung der schriftlich niedergelegten Urteilsformel zum gesetzlichen Regelfall, der nur in bestimmten Fällen durch Bezugnahme auf die Urteilsformel ersetzt werden kann. Die Notwendigkeit schriftlicher Niederlegung soll die Gewähr für die Übereinstimmung mit dem später abgefassten Urt bieten (Mat II 1 S 287 zu § 272). Gemäß Abs 3 ist die Begründung des Urteils bei der Verkündung entbehrlich. Abs 4 gilt für den Fall eines besonderen Verkündungstermins (§ 310 I Var 2, II).
B. Voraussetzungen.
I. Überschrift des Urteils.
Rn 2
Als Ausdruck der Legitimation aller Staatsgewalt durch das Volk (Art 20 II GG) muss das Urt die Überschrift ›Im Namen des Volkes‹ enthalten. Es ist eine ästhetische Frage, ob diese Formel der Bezeichnung als ›(End-)Urteil‹ vorangehen muss oder ihr nachfolgt. Fehlt es an der Eingangsformel, ist dies unschädlich (LG Dortmund WuM 95, 548).
II. Vorlesung der Urteilsformel (Abs 2 S 1).
Rn 3
Abs 2 S 1 ist der gesetzliche Regelfall, der auch die Fälle betrifft, in denen die Entscheidung am ›Schluss der Sitzung‹ erfolgt (§ 310 Rn 4; Fischer DRiZ 94, 95, 97). Die Urteilsformel muss im Ganzen vorgelesen werden (BGH NJW 85, 1782, 1783), nicht auch die Eingangsformel. Sie muss schriftlich niedergelegt sein (BGHZ 10, 327, 329 = NJW 53, 1829; NJW 15, 2342; NJW-RR 22, 1363 Rz 23); Tonbandaufzeichnung genügt nicht, wohl aber stenografische Niederschrift (BGH NJW 99, 764 [BGH 05.12.1997 - 2 StR 505/97]). Die Verkündung ist Sache des Vorsitzenden (§ 136 IV). Die Verkündung ist zu protokollieren, § 160 III Nr 7; nur mit der Beweiskraft des Protokolls (§ 165) lässt sich die Verkündung beweisen. Nach Ablauf der Frist von fünf Monaten (§ 517) darf das Protokoll nicht mehr erstellt werden (BGH NJW 11, 1743 [OLG Celle 22.11.2010 - 10 UF 219/10] Rz 20; NJW 15, 2342, 2343 [BGH 21.04.2015 - VI ZR 132/13] Rz 14). Das verlesene Urt ist als Anlage zum Protokoll zu nehmen (§§ 160 II Nr 5, 160 III; BGHZ 10, 327, 329; vgl BGHZ 158, 37, 41 = NJW 04, 1666; 06, 1881, 1882), wohl auch dann, wenn es erst nachträglich vollständig abgesetzt ist (BGH NJW 94, 3358; Zö/Feskorn Rz 3a). Es ist nach § 163 Abs 1 S 1 zu unterschreiben, aber es genügt ein Schriftzug, der individuellen Charakter aufweist und der Unterzeichnende erkennbar ist (im Einzelnen BGH NJW-RR 17, 821 [BGH 17.03.2017 - V ZR 70/16] Rz 13). Heißt es im Protokoll, in Anwesenheit der persönlich erschienenen Parteien sei das aus der Anlage ersichtliche Urt durch ›Verlesen des entscheidenden Teils‹ verkündet worden, so ist § 160 III Nr 7 genügt, obwohl die Formulierung des Verkündungsprotokolls unklar lässt, ob der gesamte Urteilstenor verlesen worden ist (BGH NJW-RR 04, 1651, 1652). Da der Bezug zwischen dem Verkündungsprotokoll und dem verkündeten Urt eindeutig ist, muss das Verkündungsprotokoll nicht fest mit dem verkündeten Urt verbunden sein (BGH NJW-RR 04, 1651). Die Formulierung ›anliegendes Urteil verkündet‹ im Protokoll genügt dem Erfordernis des § 160 Abs 3 Nr 7 und für den Beweis der Verkündung, da der Bezug zwischen Verkündungsprotokoll und verkündetem Urteil eindeutig ist (BGH NJW-RR 15, 508, 509). Enthält das Sitzungsprotokoll nur den Ausspruch ›Beschlossen und verkündet: Die Ehe wird geschieden …‹, so genügt dies wegen Unklarheit über die Entscheidungsform nicht (Naumbg FamRZ 06, 959).
III. Bezugnahme auf die Urteilsformel (Abs 2 S 2).
Rn 4
Die Bezugnahme auf die Urteilsformel reicht aus, wenn bei der Verkündung von den Parteien niemand erschienen ist; auf die Anwesenheit sonstiger interessierter Öffentlichkeit stellt Abs 2 S 2 nicht ab. Das gilt in allen Fällen von § 310 I und daher unabhängig davon, ob es sich um ein Stuhlurteil handelt oder ein VT bestimmt worden ist. Die Vorlesung machte keinen Sinn, wenn die Adressaten des Urteils nicht anwesend sind und daher nicht zu befürchten ist, dass verkündete Urteilsformel und das schriftlich abgefasste spätere Urt divergieren. Die Bezugnahme kann auch konkludent erfolgen (so Jauernig NJW 86, 117); die Urteilsformel muss auch hier anders als bei Abs 2 S 3 bereits schriftlich, aber muss noch nicht unterschrieben vorliegen (BGHZ...