Prof. Dr. Christoph Thole
I. Entbehrlichkeit des Tatbestands (Abs 1 S 1).
Rn 2
Nach Abs 1 S 1 ist die Abfassung des Tatbestands in der von § 313 verlangten Form entbehrlich, was nicht ausschließt, dass das Gericht in den Gründen auf tatsächliche Feststellungen zurückgreifen muss, um sein Ergebnis sachgerecht begründen zu können. Abs 1 S 1 trägt dem Umstand Rechnung, dass die Parteien häufig mehr Wert auf die Begründung als auch eine erneute Darlegung der ihnen bekannten Faktenlage legen und der dem Urt zugrunde liegende Sachverhalt nicht mit der Beweiskraft des § 314 verbindlich festgeschrieben werden muss, wenn ein Rechtsmittel nicht statthaft ist. Zu den Auswirkungen auf die Kosten unten Rn 11. Das Rechtsmittel muss unzweifelhaft nicht zulässig sein. Das ist nicht schon dann der Fall, wenn gegen eine Partei Klageabweisung mangels Partei- oder Prozessfähigkeit erfolgte (denn dies wäre gerade Gegenstand des Rechtsmittels). Gefordert ist, dass das Urt bereits seiner Art nach nicht rechtsmittelfähig ist (insb Revisionsurteil), keine Partei die Beschwersumme für das Rechtsmittel von 600 EUR (§ 511 II Nr 2) erreicht und die Berufungszulassung nicht erfolgt oder (bis 31.12.19) der Beschwerdewert von 20.000 EUR für die Nichtzulassungsbeschwerde (§ 544, § 26 Nr 8 EGZPO aF) nicht erreicht ist; demnach ist § 313a auch auf Berufungsurteile anwendbar (München 11.7.12, 3 U 1146/12 – juris). Die Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde bleibt außer Betracht. Ist nur für eine Partei die Beschwersumme nicht erreicht, darf auf den Tatbestand nicht verzichtet werden. Ist bei einer wertabhängigen Statthaftigkeit des Rechtsmittels nicht eindeutig, ob und in welcher Höhe eine Partei beschwert ist, so ist die Unzulässigkeit des Rechtsmittels nicht unzweifelhaft und ein vollständiges Urt anzufertigen. Im NZB-Verfahren ist die Revision nicht alleine deshalb zuzulassen, weil das Berufungsgericht §§ 313a Abs 1, 540 Abs 2 irrtümlich angewendet hat (BGH NJW 17, 2561 [BGH 16.05.2017 - VI ZR 25/16]).
II. Entbehrlichkeit von Tatbestand und Entscheidungsgründen bei nicht rechtsmittelfähigen Urteilen (Abs 1 S 2).
1. Allgemeines.
Rn 3
Abs 1 S 2 erfasst nur nicht rechtsmittelfähige Urteile iSd Abs 1 S 1 (›In diesem Fall‹). Wie bei Abs 1 S 1 bedeutet Entbehrlichkeit (›bedarf es nicht‹) keine generelle Pflicht des Gerichts zum Absehen von Entscheidungsgründen, wenn das Gericht zB mit Blick auf Parallelverfahren eine Abfassung für sinnvoll hält (vgl auch Zweibr NJW-RR 97, 1087 betr § 313b). Die Parteiherrschaft setzt sich insoweit nicht zwingend durch. Enthält das Urt Tatbestand und Entscheidungsgründe, obwohl diese nach § 313a I entbehrlich sind, erfüllt dies folgerichtig nicht die Voraussetzungen einer unrichtigen Sachbehandlung nach § 21 GKG (Brandbg FamRZ 07, 1831). Zur Kostenbegünstigung unten Rn 11. Umgekehrt darf ein Gericht Tatbestand und Begründung wegen § 318 nicht nachschieben, wenn es zB die Statthaftigkeit des Rechtsmittels übersehen hat, wohl aber kommt § 321a V in Betracht (unten, Rn 9; Anders/Gehle/Hunke ZPO Rz 8). Anders ist es nur bei Abs 5 (s.u. Rn 8 aE).
Das Absehen von Tatbestand und Entscheidungsgründen kann Fragen nach dem Umfang der Rechtskraft aufwerfen, da der Streitgegenstand nicht durch Tatbestand und Gründe identifizierbar ist. Daher kann sich ggf empfehlen, in einem erläuternden Satz den Streitgegenstand kurz darzulegen (Anders/Gehle/Hunke ZPO Rz 2). Verzichtet das Gericht auf weitere Erläuterungen, so ist der Umfang der Rechtskraft in einem Folgeprozess iZw unter Heranziehung der Akten zu bestimmen.
2. Fallgestaltungen.
Rn 4
Zu unterscheiden sind zwei Fallgestaltungen. Ein Verzicht iSd Abs 1 S 2 Hs 1 muss sich auf die Begründung selbst beziehen. Der Verzicht ist eine bedingungsfeindliche und unwiderrufliche Prozesshandlung (Frankf NJW 89, 841). Die Bedingungsfeindlichkeit bezieht sich auf unbestimmte, externe Umstände, nicht aber auf Prozessergebnisse; daher ist Verzicht für den Fall des Unterliegens oder Obsiegens zulässig (St/J/Althammer Rz 11; Musielak/Musielak Rz 4). Die Prozesshandlungsvoraussetzungen müssen vorliegen; deshalb gilt Anwaltszwang nach § 78 (Naumbg FamRZ 02, 470, LS; näher § 78 Rn 16) und die Form für bestimmende Schriftsätze des § 129 (§ 129 Rn 6). Der Verzicht kann dem Urt vorangehen (Abs 3; Rn 6). Eine nach seinem Wortlaut nicht eindeutige oder konkludente Erklärung der Parteien ist auslegungsfähig auf der Grundlage einer objektiven Betrachtung (BGH NJW-RR 07, 1451, 1452 [BGH 04.07.2007 - XII ZB 14/07] Rz 10); ein Rechtsmittelverzicht bedeutet (nur) unter den Voraussetzungen von Abs 2 einen Verzicht auf die Entscheidungsgründe. Umgekehrt enthält ein Begründungsverzicht regelmäßig keinen Verzicht auf das Rechtsmittel (BAG EzA § 72a ArbGG 79 Nr 107; BAG NJW 06, 1995 [BAG 15.03.2006 - 9 AZN 885/05]); bei den rechtsmittelfähigen Urteilen (II) bleibt Begründungsverzicht für sich genommen also folgenlos.
Dem Begründungsverzicht stellt Abs 1 S 2 Hs 2 den Fall gleich, dass der wesentliche Inhalt der Gründe in das Protokoll aufgenommen wird. Die Aufnahme in das Protokollurteil meint nicht die nachträgliche Beifügung einer kurzen Wiedergabe des Inhalts der Gründe. Erfasst ist daher wie bei Abs 2 nur das Stuhlurteil, das im Ans...