Prof. Dr. Christoph Thole
I. Tatbestand.
Rn 2
Der Tatbestand iSd S 1 meint nicht nur einen äußerlich von den Entscheidungsgründen getrennten Teil des Urteils, sondern auch tatbestandliche Feststellungen innerhalb der Entscheidungsgründe, da die Beweiskraft grds nicht von dem äußerlichen Aufbau des Urteils abhängen kann (BGH VersR 74, 1021; BGHZ 139, 36, 39 = NJW 93, 55, 56; 03, 2158, 2159, BAG NZA 10, 290 Rz 47; stRspr; s aber Rn 7). Bei Berufungsurteilen, die gem § 540 I Nr 1 keines eigenständigen Tatbestands bedürfen, findet § 314 Anwendung, wenn die Gründe des Urteils die tatsächlichen Feststellungen hinreichend und in einer der Überprüfung durch das Revisionsgericht zugänglichen Weise (§ 559) erkennen lassen (BGH NJW 97, 1931, NJW 11, 1513 [BGH 16.12.2010 - I ZR 161/08] Rz 12). Für die verkürzte Darstellung im Tatbestand des Revisionsurteils gilt die Beweiskraft grds nicht (BGH BeckRS 16, 12167 Rz 8). Ein Antrag auf Berichtigung des Tatbestands eines Revisionsurteils ist unzulässig, wenn sich der Antrag lediglich auf die angeblich unrichtige Wiedergabe von Tatsachenfeststellungen der Vorinstanz bezieht, an die das Revisionsgericht mangels durchgreifender Verfahrensrügen gebunden war (BVerwG NVwZ-RR 18, 592 [BVerwG 24.04.2018 - BVerwG 2 C 36.16] Rz 4 zu § 119 VwGO).
Im schriftlichen Verfahren ist § 314 schon deshalb nicht anwendbar, weil es kein mündliches Parteivorbringen gibt; anders ist es, wenn zunächst mündlich verhandelt worden war (BGH Warn 72, 200, 201; MüKoZPO/Musielak Rz 4) und die Richter nicht gewechselt haben (BGH NJW 56, 945 [BGH 03.03.1956 - IV ZR 301/55], LS 1). Gleiches gilt bei einer Entscheidung nach § 251a. In beiden Fällen bezieht sich die Beweiskraft aber nicht auf sämtliches Vorbringen, sondern nur auf das Vorbringen in ebendieser mündlichen Verhandlung, das freilich auch unausgesprochen auf die Schriftsätze Bezug nehmen kann (§ 137 III). Bei Beschlüssen scheint auch der BGH nunmehr dazu zu neigen, die Beweiswirkung auszuschließen, aber er hat die Frage offengelassen (BGH NJW 21, 1598 [BGH 25.02.2021 - IX ZR 156/19] Rz 12 mit Anm Elzer FD-ZVR 21, 441222: ›Rückzug des BGH‹)
II. Mündliches Parteivorbringen.
Rn 3
§ 314 meint die Bindung an das mündliche Parteivorbringen (BGH NJW 11, 1069, 1070 [BGH 28.01.2011 - V ZR 147/10] Rz 21). Dazu gehören Angriffs- und Verteidigungsmittel jeder Art (§ 282 Rn 5). Davon zu unterscheiden ist die Bindung an tatsächliche Feststellungen, etwa in den Entscheidungsgründen nach Beweisaufnahme oder als unstreitiges oder zugestandenes Vorbringen, das im Tatbestand wiedergegeben ist (Zö/Feskorn Rz 3). Insoweit ergibt sich die mit Urteilsaufhebung entfallende Bindung des Berufungsgerichts aus § 529 I (§ 529 Rn 9 ff, und unten Rn 6); neues, von den unterinstanzlichen Feststellungen abweichendes Vorbringen ist nicht präkludiert (§ 529 Rn 18 mN). Andere Feststellungen über Prozessgeschehen, Beweisaufnahmen, richterliche Hinweise, rechtliche Bewertungen (BGH NJW-RR 90, 813, 814) und dergleichen, die nicht Parteivorbringen sind, können ggf einer Beweiswirkung nach §§ 160, 165 oder nach § 418 (mit Möglichkeit des Gegenbeweises nach § 418 II) unterliegen. Der Beweis ihres Inhalts richtet sich aber nicht nach § 314 (BGH NJW 83, 2030, 2032; NJW-RR 90, 813, 814 [BGH 20.02.1990 - XI ZR 198/89]). Soweit man entgegen der hM (NJW 84, 1465 f [BGH 18.01.1984 - IVb ZB 53/83]; § 165 Rn 2) die Beweiskraft des § 165 auch auf den Inhalt von protokollierten Parteihandlungen iSd §§ 160 III Nr 1, 3–6, 8, 9 und 10 erstreckt, geht das Protokoll dem § 314 vor, arg e § 314 S 2 (BGH VersR 84, 946, 947). Gleiche Maßstäbe gelten für den Inhalt der Anträge (St/J/Althammer Rz 4; MüKoZPO/Musielak Rz 7). Prozesshandlungen der Partei wie Anerkenntnis oder Einwilligung in die Klagerücknahme können demgegenüber Parteivorbringen iSd § 314 sein (BVerwG NJW 88, 1228 [BVerwG 03.07.1987 - BVerwG 4 C 12.84]; Ddorf NJW 91, 1492, 1493 [OLG Düsseldorf 15.03.1990 - 6 U 215/89]; St/J/Althammer Rz 3; MüKoZPO/Musielak Rz 3; Wieczorek/Schütze/Rensen Rz 6). Ob Vorbringen in einem nachgelassenen Schriftsatz (§ 283) von der Beweiswirkung erfasst werden kann, obwohl das Gericht die mündliche Verhandlung nicht wiedereröffnet und über das Vorbringen nicht mehr mündlich verhandelt wird, ist fraglich, im Zweifel aber wie für das schriftliche Verfahren zu verneinen, obwohl der Vorbehalt des § 283 insoweit nur zugunsten einer Partei wirkt (dazu BGH NJOZ 22, 975 Rz 31) Die Wirkung des § 314 S 1 kann jedenfalls nur insoweit nicht mehr eingreifen, als der nachgelassene Schriftsatz gem § 283 berücksichtigungsbedürftiges Vorbringen enthält. Es muss sich auf neuen, verspäteten Sachvortrag des Gegners beziehen. Nicht berücksichtigungsbedürftig im nachgelassenen Schriftsatz ist hingegen neuer Sachvortrag, der über eine Replik hinausgeht oder sich auf früheres, lediglich wiederholtes Vorbringen des Gegners bezieht (BGH NJW 18, 1686 [BGH 27.02.2018 - VIII ZR 90/17] Rz 22 ff.; zum Ganzen BGH NJOZ 22, 975 Rz 31). Die Frage, ob Vortrag einer Partei prozessrechtlich wirksam bestritten worden ist, bleibt ohne Einf...