Prof. Dr. Christoph Thole
I. Positive Beweiskraft.
Rn 4
S 1 begründet eine positive Beweiswirkung dahin, dass die Parteien ein bestimmtes mündliches Vorbringen in der mündlichen Verhandlung getätigt haben (BGH BB 07, 742 [BGH 08.01.2007 - II ZR 334/04], LS; NJW 07, 2913, 2915 [BGH 09.07.2007 - II ZR 233/05] Rz 21). Für erstinstanzliches Vorbringen kann auch nur der Tatbestand des erstinstanzlichen Urteils Beweis erbringen (Jena 4.5.09, 4 U 757/07, OLGR 09, 713), Konkrete Verweisungen auf bestimmte Dokumente oder Schriftsätze (§ 313 II 2) erstrecken die Beweiskraft auch auf das darin enthaltene Vorbringen (BGH NJW 83, 885, 886), wobei im Zweifelsfall die ausdrückliche Wiedergabe des Vorbringens im Tatbestand Vorrang hat (BGHZ 140, 335, 339; BGH NJW 02, 3478, 3480); wer Pauschalverweisungen ›auf die Akten‹ für zulässig hält, müsste § 314 auch insoweit anwenden (Balzer NJW 95, 2448, 2452; § 313 Rn 12; s aber Rn 5). Die positive Beweiskraft erfasst auch den Umstand, dass eine Behauptung bestritten oder nicht bestritten wurde (ThoPu/Reichold Rz 1), sowie die Reihenfolge des Vorbringens (RG JW 1894, 11, 12; St/J/Althammer Rz 3), was für Präklusion und Rügeverlust bedeutsam sein kann. Der Tatbestand liefert auch Beweis dafür, welche Abweichungen es zum schriftsätzlich angekündigten Vortrag gegeben hat (BGH VersR 83, 1160, 1161). Die Beweiskraft bzgl Widersprüchen, Lücken oder Unklarheiten im Tatbestand kann nicht durch Rückgriff auf in Bezug genommene vorbereitende Schriftsätze entfallen; die Entkräftung ist nur durch das Sitzungsprotokoll möglich (BGH MDR 15, 1004, 1005 [BGH 12.05.2015 - VI ZR 102/14]; VI ZR 104/14, BeckRS 15, 13134 Rz 50; NZG 15, 1432 Rz 49).
II. Negative Beweiskraft.
Rn 5
Nach bisher hM kommt dem Tatbestand auch negative Beweiswirkung zu. Fehlt eine Wiedergabe des Parteivorbringens im Tatbestand, ist durch S 1 bewiesen, dass das Vorbringen nicht geltend gemacht wurde (BGH NJW 84, 2463 [BGH 25.05.1984 - V ZR 199/82]; NJW-RR 90, 1269 [BGH 16.05.1990 - IV ZR 64/89]). Im Hinblick auf § 313 II nF will der BGH die negative Beweiswirkung von S 1 aber nicht mehr auf schriftsätzlich angekündigtes Parteivorbringen anwenden, sodass sie nur noch für Angriffs- und Verteidigungsmittel gilt, die ohne schriftsätzliche Ankündigung vorgebracht werden (BGHZ 158, 269, 280 ff = NJW 04, 1876, 1879; BGHZ 158, 295, 309 = NJW 04, 2152, 2155). Eine negative Beweiskraft könne nur gerechtfertigt sein, wenn der Tatbestand eine vollständige Wiedergabe des Vorbringens erfordere, was aber wegen § 313 II jetzt nicht mehr der Fall sei (BGH aaO). Die Partei ist daher durch S 1 auch ohne die Notwendigkeit einer Tatbestandsberichtigung nicht daran gehindert, sich auf vermeintlich übergangenes oder für unerheblich erachtetes Schriftsatzvorbringen zu berufen. Auch weitere Urteile sind von der negativen Beweiskraft abgekehrt (BGH MDR 07, 353; 12, 1184). Daher wird die negative Beweiskraft des Tatbestands inzwischen ganz umfassend verneint (vgl zuletzt BGH V ZR 146/14 BeckRS 15, 19846 Rz 7; zur aktuellen Rspr und zu den Folgen für Berichtigungsanträge Dräger MDR 15, 131). Unabhängig von der negativen Beweiswirkung des § 314 soll in der Berufungsinstanz der gesamte Akteninhalt berücksichtigungsfähig sein (BGH NJW 92, 2148, 2149; BGHZ 158, 295, 309 = NJW 04, 2152, 2155; krit Wach/Kern NJW 06, 1315, 1317: zwar gesamter Prozessstoff in der Berufungsinstanz, aber Nachweis nur durch Tatbestand), sodass auch ein aus einem lückenhaften Tatbestand nicht ersichtliches Parteivorbringen nicht ›neu‹ iSd § 529 I Nr 2 ist, denn die Fehlerkontrolle auch hinsichtlich der tatsächlichen Feststellungen könne nur erfolgen, wenn der Prozessstoff der 1. Instanz dem Berufungsgericht als Ganzes zur Prüfung anfalle (so BGHZ 158, 295, 309). Die tatsächliche Grundlage für das Berufungsurteil kann daher dem Tatbestand entnommen werden und durch einen ergänzenden Rückgriff auf die Schriftsätze angereichert werden. Unter diesen Prämissen ist das ›Streitigstellen‹ von erstinstanzlich unstreitigen Tatsachen ebenso wie umgekehrt das Außerstreitstellen von vormals streitigen Behauptungen kein Fall von § 531 (BGZ 161, 138, 141 ff = NJW 05, 291 [BGH 18.11.2004 - IX ZR 229/03]; BGH BB 00, 1962). Auf dieser Grundlage spielt die Pauschalverweisung auf die Schriftsätze keine maßgebliche Rolle (näher § 313 Rn 12).
III. Beweiswirkungen und Instanzenzug.
Rn 6
Die Beweiswirkung des Urteilstatbestands erfasst nur das Vorbringen in der jeweiligen Instanz. Ein Tatbestand im Berufungsurteil hat daher keine Beweiskraft hinsichtlich des erstinstanzlichen Urteils (BGHZ 140, 335, 339); das gilt erst recht, wenn das Gericht von § 540 Gebrauch macht. Folgerichtig beweist der Tatbestand des Revisionsurteils nicht das Vorbringen in den unteren Instanzen. Bei mündlicher Verhandlung wird allerdings nach den Grundsätzen eben Rn 5 der bis dahin angefallene Akteninhalt durch die Stellung der Anträge auch ohne ausdrückliche Verweisung zum Gegenstand der Verhandlung gemacht (BGH NJW 92, 2148, 2149 [BGH 16.06.1992 - XI ZR 166/91]), sodass § 314 auch insoweit und mittelbar instanzenübergreifend eingreifen müsste (M...