Prof. Dr. Barbara Völzmann-Stickelbrock
a) Ne bis in idem.
Rn 14
Auf der Grundlage der prozessualen Rechtskrafttheorie wirkt die materielle Rechtskraft einer Entscheidung in einem späteren Prozess als eine negative Prozessvoraussetzung. Nach rechtskräftiger Entscheidung ist damit nicht nur eine erneute Entscheidung über denselben Streitgegenstand, sondern bereits eine erneute Klage unzulässig und durch Prozessurteil abzuweisen (BGHZ 157, 47, 50 = NJW 04, 1252, 1253; Hamm MDR 16, 114). Ausländische Entscheidungen entfalten im Inland diese Wirkung, sofern sie anerkannt werden (Ddorf ZIP 15, 794; MüKoZPO/Gottwald § 322 Rz 36; Einzelheiten bei § 328). Entscheidende Frage ist daher im zweiten Prozess stets, ob der Streitgegenstand mit dem des ersten Prozesses identisch ist, was sich nach dem dortigen prozessualen Anspruch und dem ihm zu Grunde liegenden Lebenssachverhalt bestimmt (BGH NJW 03, 3058; NJW-RR 07, 1433, 1434). Zum Lebenssachverhalt gehören alle Tatsachen, die bei einer natürlichen Betrachtung zu dem zur Entscheidung gestellten Tatsachenkomplex gehören (BGHZ 198, 294 Rz 15 stRspr). Bei Abweichungen ist darauf abzustellen, ob mit der neuen Klage im Kern das gleiche erreicht werden soll wie im Vorprozess (BGH NJW-RR 87, 683). Dies ist etwa zu bejahen bei zwei gegen denselben Beschl der Wohnungseigentümer gerichteten Anfechtungsklagen (BGH NJW 13, 65). Die Rechtskraft einer klageabweisenden Entscheidung über einen Schadensersatzanspruch wegen eines Beratungsfehlers in einem Kapitalanlagegespräch steht einer erneuten Klage wegen eines anderen Fehlers in demselben Beratungsgespräch entgegen, da diese einen einheitlichen Lebensvorgang darstellt (BGHZ 198, 294 = NJW 14, 314). Gleiches gilt bei Prospektfehlern in demselben Prospekt (München WM 14, 743) bzw der Geltendmachung von Prospekthaftungsansprüchen und deliktischen Ansprüchen, die auf einen unrichtigen Prospekt gestützt werden (BGH NJW 18, 1259 [BGH 21.11.2017 - II ZR 180/15]). Anders ist die Situation hingegen dann zu beurteilen, wenn die mit mehreren Klagen geltend gemachten Pflichtverletzungen verschiedene, gesondert zu beurteilende Tätigkeiten des Architekten im Rahmen einer Bauleitung (BGH NJW-RR 08, 762 [BGH 24.01.2008 - VII ZR 46/07]) oder unterschiedliche Verfahrensstadien einer anwaltlichen Beratung betreffen (BGH NJW-RR 08, 1235 [BGH 13.03.2008 - IX ZR 136/07]) und die erste Klage auf eine bestimmte Pflichtverletzung beschränkt ist. Nicht höchstrichterlich geklärt ist bislang die Reichweite der Rechtskraft des klageabweisenden Urteils im Arzthaftungsprozess. Ob hier das gesamte vorgetragene Behandlungsgeschehen als streitgegenständlich anzusehen (Saarbr MDR 00, 1317 [OLG Saarbrücken 12.07.2000 - 1 U 1082/99-263]), oder jedenfalls bei Klagen gestützt auf unzureichende ärztliche Aufklärung einerseits und fehlerhafter Behandlung andererseits keine Streitgegenstandidentität anzunehmen ist (BGH NJW-RR 97, 414, 415 [OLG Düsseldorf 07.10.1996 - 3 Wx 400/96] – obiter dictum), ist nicht abschließend geklärt (dazu Althammer S 498).
Einer auf eigenes Recht gestützten Klage steht zB die Rechtskraft eines Urteils zwischen denselben Parteien nicht entgegen, in dem die nur auf abgetretenes Recht gestützte Klage abgewiesen worden ist, denn hierbei handelt es sich nicht um verschiedene rechtliche Begründungen desselben prozessualen Anspruchs, sondern um verschiedene Streitgegenstände (BGH NJW 05, 2004; NJW 08, 2922 [BGH 23.07.2008 - XII ZR 158/06], dies jedoch nur dann, soweit keine Rechtskrafterstreckung nach § 325 vorliegt, die zu einer Bindung an das Ergebnis des Vorprozesses führt (BGH MDR 21, 446 [BGH 16.10.2020 - V ZR 98/19] Rz 18 ff., Fischer LMK 21, 896662)Keine Identität des Streitgegenstandes besteht auch zwischen der Klage des Vermieters auf Betriebskostenvorauszahlungen und der Nachforderungsklage nach deren Abrechnung (LG Köln WuM 14, 25 [LG Köln 08.05.2013 - 9 S 278/12]). Ebenso wenig führt eine Klage des Mieters auf Rückzahlung der Vorauszahlungen zu einer entgegenstehenden Rechtskraft gegenüber einer anschließenden Klage des Vermieters nach deren Abrechnung (BGH NJW 05, 1499 [BGH 09.03.2005 - VIII ZR 57/04]). Kein anderer Streitgegenstand, sondern lediglich eine unbeachtliche zeitliche Einschränkung des Begehrens liegt bei einem späteren Zinsbeginn im nachfolgenden Prozess vor (BGHZ 117, 1, 5 = NJW 92, 1172; BGH, BeckRS 20, 42398 Rz 14).
b) Kontradiktorisches Gegenteil.
Rn 15
Identisch sind die Streitgegenstände auch dann, wenn im Folgeprozess das kontradiktorische Gegenteil der im ersten Prozess ausgesprochenen Rechtsfolge begehrt wird (BGH NJW 03, 3058, 3059 [BGH 26.06.2003 - I ZR 269/00]; NJW 08, 1227 [BGH 16.01.2008 - XII ZR 216/05]). Wann dies der Fall ist, kann nicht allein nach dem Wortlaut, sondern muss nach dem Sinn der Klage beurteilt werden, da abgesehen vom Fall der positiven und der negativen Feststellungsklage das exakte Gegenteil der im Erstprozess ausgesprochenen Rechtsfolge oft schwer zu bestimmen ist. So liegt bspw nach dem Sinn und Zweck der Klagen eine Identität der Streitgegenstände vor, wenn der im Streit um den E...