Prof. Dr. Barbara Völzmann-Stickelbrock
a) Grundlagen.
Rn 17
Häufiger als eine Identität der Streitgegenstände ist der Fall, dass die in einem Vorprozess entschiedene Rechtsfolge präjudizielle Bedeutung für den nachfolgenden Rechtsstreit hat. Wenn die im ersten Prozess rechtskräftig entschiedene Rechtsfolge im zweiten Prozess nicht die Hauptfrage, sondern eine Vorfrage darstellt, besteht die Wirkung der Rechtskraft in der Bindung des nunmehr entscheidenden Gerichts an die Vorentscheidung (BGH NJW 95, 2993 [BGH 14.07.1995 - V ZR 171/94], NJW 03, 3058, 3059 [BGH 26.06.2003 - I ZR 269/00]). Es muss den Inhalt der rechtskräftigen Entscheidung seinem Urt zu Grunde legen (BGH NJW 93, 3204 [BGH 24.06.1993 - III ZR 43/92]; BAG NZA 13, 437, 448 [BAG 20.11.2012 - 1 AZR 611/11]; NZM 19, 401 [BGH 10.04.2019 - VIII ZR 39/18] Rz 17). Nicht nur die erneute Entscheidung, sondern auch eine selbstständige Verhandlung oder Beweisaufnahme hinsichtlich der bereits rechtskräftig entschiedenen Vorfrage sind unzulässig (BGH NJW 85, 2535 [BGH 06.03.1985 - IVb ZR 76/83]; MüKoZPO/Gottwald § 322 Rz 52).
b) Umfang der Bindungswirkung.
Rn 18
Die Bindungswirkung ist allerdings beschränkt auf den Streitgegenstand des früheren Rechtsstreits, der durch den dortigen prozessualen Anspruch und den ihm zugrunde liegenden Lebenssachverhalt bestimmt wird (BGHZ 98, 353, 358 = NJW 87, 1201; NJW 93, 3204, 3205; NJW 95, 1757 f; BAG NJW 14, 717). Keine Präjudizialität besteht hinsichtlich einzelner Urteilselemente wie Tatsachenfeststellungen und rechtlichen Folgerungen, da diese nicht in Rechtskraft erwachsen (BGH NJW 86, 2508, 2509). Bei einer klageabweisenden Entscheidung ist jedoch der aus der Begründung zu ermittelnde, die Rechtsfolge bestimmende Abweisungsgrund Teil des in Rechtskraft erwachsenden Entscheidungssatzes und nicht allein ein Element der Entscheidungsbegründung (BGH NJW 93, 3204 [BGH 24.06.1993 - III ZR 43/92]; NJW-Spezial 11, 590; MDR 21, 446 [BGH 16.10.2020 - V ZR 98/19] Rz 27). Bei einem Unterlassungsurteil erwächst nicht der Verbotsausspruch als solcher in Rechtskraft, sondern nur die vom Gericht festgestellte konkrete Verletzungshandlung (BGHZ 166, 253 = NJW-RR 06, 1118, 1121; Musielak NJW 00, 3593, 3596; v. Ungern-Sternberg GRUR 09, 1009, 1015; einschr KG NJW-RR 99, 789 [KG Berlin 30.06.1998 - 5 U 4771/97]).
c) Grenzen der Bindungswirkung.
Rn 19
In der Literatur wird zT der Begriff der Präjudizialität weit verstanden, wenn eine Vorfrage des ersten Prozesses zugleich auch Vorfrage des zweiten Prozesses ist. In diesem Fall soll sich die Rechtskraftbindung nicht auf den Urteilstenor beschränken, wenn zwingende Sinnzusammenhänge oder Ausgleichszusammenhänge dies erfordern (Zeuner S 42 ff; Grunsky VerfahrensR § 47 IV 2b; Foerste ZZP 108 [1995], 167 ff). Auch wenn auf diese Weise im Einzelfall widersprüchliche Entscheidungen vermieden werden können, hält die hM dieses Kriterium zu Recht für zu unbestimmt, um eine Rechtskraftbindung an präjudizielle Rechtsverhältnisse über den Wortlaut des § 322 I hinaus zu begründen (BGHZ 150, 377, 383 = NJW-RR 02, 1617, 1619; NJW 03, 3058, 3059; BAG NZA 13, 1003, 1005; BGH MDR 19, 692 Rz 26; MüKoZPO/Gottwald § 322 Rz 54 ff; rechtsvergleichend Dalla Bontà ZZP 125 [2012], 93). Eine Prozesspartei, die ein Interesse an der rechtskräftigen und für nachfolgende Prozesse bindenden Klärung einer Vorfrage hat, muss daher im Vorprozess Zwischenfeststellungsklage nach § 256 II erheben (BGH FamRZ 84, 878, 879 [BGH 19.06.1984 - IX ZR 89/83]).
d) Beispielfälle.
Rn 20
Präjudiziell ist bspw: die rechtskräftige Feststellung der Nichtigkeit des Grundstückskaufvertrags für die Entscheidung über die Berichtigung des Grundbuchs wegen Erlöschens des durch Vormerkung gesichterten Anspruchs aus dem Vertrag (BGH NJW 23, 2343 [BGH 17.02.2023 - V ZR 22/22]); die rechtskräftige Feststellung des Eigentums an einer Sache für einen nachfolgenden Anspruch auf Herausgabe der Sache; das Urt auf Herausgabe einer Sache für den Anspruch auf Vergütung der nach Rechtshängigkeit gezogenen Nutzungen (BGH NJW 81, 1517 [BGH 13.03.1981 - V ZR 115/80]); die Feststellung des Erbrechts für das Erbscheinsverfahren (München NJW 16, 2512 [OLG München 08.03.2016 - 31 Wx 386/15]; Frankf ZEV 16, 275 [OLG Bremen 10.03.2016 - 5 W 40/15]; Adam ZEV 16, 233, 234); ein im ersten Prozess ausgesprochener Vorbehalt der beschränkten Erbenhaftung nach § 780 I (BGH NJW 21, 701 [BGH 21.10.2020 - VIII ZR 261/18] Rz 36); die Feststellung des Bestehens eines Mietverhältnisses für die nachfolgende Leistungsklage auf Mietzins (BGH NJW 04, 294 [BGH 24.09.2003 - XII ZR 70/02]) und die Abweisung eines Schadensersatzanspruchs für eine andere Forderung, die das Bestehen des abgewiesenen Schadensersatzanspruchs voraussetzt (BGH NJW 04, 3204 [BVerwG 21.04.2004 - BVerwG 6 C 20/03]). Ebenso schließt die rechtskräftige Abweisung einer Kündigungsschutzklage gegen eine zu einem früheren Zeitpunkt wirkende Kündigung im Verhältnis der Parteien zueinander eine Klage gegen eine danach zugegangene Kündigung aus (BAG NZA 11, 804 [BAG 27.01.2011 - 2 AZR 826/09]). Ein rechtskräftiges Urt, welches einem vertraglichen Unterlassu...