Prof. Dr. Barbara Völzmann-Stickelbrock
Rn 22
Die materielle Rechtskraft einer zivilgerichtlichen Entscheidung nach § 322 ist nicht allein auf zivilprozessuale Verfahren beschränkt. Rechtskräftige Entscheidungen der streitigen Gerichtsbarkeit binden auch die freiwillige Gerichtsbarkeit und umgekehrt (BGHZ 40, 338, 341 = NJW 64, 863; Frankf ZEV 16, 275, 276; München NJW 16, 2512). Die materielle Rechtskraft ist auch nicht auf die ordentliche Gerichtsbarkeit beschränkt, sondern auch von den Gerichten der anderen Gerichtszweige zu beachten. Denn die unterschiedlichen Gerichtszweige sind grds als gleichwertige Teile einer einheitlichen ›Dritten Gewalt‹ nach Art 92 GG zu betrachten. Dies folgt insb auch aus §§ 17 II 1 GVG, aus dem sich eine rechtswegübergreifende Bindung an Entscheidungen anderer Rechtswege ergibt. Für die Arbeitsgerichtsbarkeit gelten die §§ 322 ff nach § 46 II 1 ArbGG unmittelbar.
Rn 23
In Verfahren vor den Verwaltungs-, Sozial- oder Finanzgerichten wird eine Identität der Streitgegenstände aufgrund der unterschiedlichen Aufgabenzuweisungen nur ganz ausnahmsweise vorliegen. Es kommt aber nicht selten vor, dass Vorfragen zu klären sind, an deren rechtskräftige Bejahung oder Verneinung der Zivilrichter in einem nachfolgenden Prozess gebunden ist. Bspw ist in Entschädigungsprozessen die Entscheidung des Verwaltungs- oder Sozialgerichts über die Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes der Entscheidung zugrunde zu legen (BGHZ 9, 329; 90, 4, 12 = NJW 84, 1172, 1174). So schließt die Rechtskraft eines Bescheids über Erschließungsbeträge die Zuerkennung eines zivilrechtlichen Rückzahlungsanspruchs hinsichtlich der Beitragsleistungen aus (BGH NJW 87, 773). Neben einer den gesetzlichen Bestimmungen entsprechenden Abfindung im Flurbereinigungsverfahren ist daher kein Raum mehr für einen Entschädigungsanspruch wegen enteignungsgleichen Eingriffs (BGHZ 86, 226, 232 = NJW 83, 1661, 1662). Wird eine Entschädigung im Planfeststellungsverfahren mangels eines Enteignungstatbestands rechtskräftig abgelehnt, ist auch das Zivilgericht gehindert, in einem Prozess zwischen denselben Parteien unter enteignungsrechtlichen Gesichtspunkten eine Entschädigung zuzusprechen (BGHZ 95, 28, 35 = NJW 85, 3025, 3027). Nach stRspr ist das Zivilgericht auch im Amtshaftungsprozess an die rechtskräftige Entscheidung des Verwaltungsgerichts über die Rechtmäßigkeit der Amtshandlung gebunden (BGHZ 95, 242 = NJW 85, 2324; 146, 153, 156; 161, 305, 309 = NJW 05, 748, 749). Nicht erfasst wird jedoch die Begründung für die Rechtswidrigkeit, insoweit sind die Zivilgerichte in ihrer Beurteilung frei (BGHZ 20, 379, 382 = NJW 56, 1358; 134, 268, 273 = NJW 97, 2174). Auch bei Vorfragen iRe Enteignungsverfahrens, wie der Beurteilung der Wirksamkeit eines Bebauungsplans, ist der Zivilrichter an die im Normenkontrollverfahren ergangene Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts gebunden (BGHZ 77, 338 = NJW 80, 2814; 105, 94, 96 = NJW 89, 216). Bei der Bemessung des Versorgungsausgleichs eines Beamten ist das Zivilgericht an die Entscheidung des Verwaltungsgerichts über die ruhegehaltsfähige Dienstzeit gebunden (BGH NJW 92, 314 [BGH 18.09.1991 - XII ZB 169/90]). Ein rechtskräftiger Anerkennungsbescheid über die öffentliche Förderung eines Bauvorhabens bindet den Zivilrichter bei der Beurteilung des öffentlich-rechtlichen Bewilligungsverhältnisses (BGH NJW-RR 94, 1272, 1274 [BGH 17.06.1994 - V ZR 34/92]). Eine Bindung der Zivilgerichte aus Gründen der Rechtskraft besteht hingegen nicht an verwaltungsbehördliche Entscheidungen (BGHZ 158, 19, 22 = ZMR 04, 413, 414).
Rn 24
Umgekehrt sind auch die Verwaltungs-, Sozial- und Finanzgerichte grds an die rechtskräftige Entscheidung des Zivilrichters gebunden. Dabei entfaltet die zivilgerichtliche Entscheidung, wer von zwei Prozessparteien Eigentümer einer Sache, Inhaber einer Forderung oder Erbe ist, im Regelfall keine Rechtskraftbindung ggü dem Staat im Falle eines Finanz- oder Verwaltungsprozesses, da es bereits an der Identität der Parteien fehlt. Der zivilgerichtlichen Entscheidung kommt jedoch in diesen Fällen eine der Tatbestandswirkung (vgl Rn 7) angenäherte Wirkung zu. Zwar ist das Vorliegen eines Zivilurteils nicht Tatbestandsmerkmal der anzuwendenden öffentlich-rechtlichen Norm, gleichwohl kann etwa der zivilrechtlich rechtskräftig als Erbe feststehende auch als Steuer- oder Beitragspflichtiger in Anspruch genommen werden (MüKoZPO/Gottwald § 322 Rz 77; Wieczorek/Schütze/Büscher § 322 Rz 92; krit Zö/G.Vollkommer Vor § 322 Rz 9).
Rn 25
Da das zivilgerichtliche Verfahren durch die Dispositionsmaxime und den Beibringungsgrundsatz geprägt wird, während im Strafverfahren der Untersuchungsgrundsatz gilt, besteht eine Bindung der Strafgerichte an zivilgerichtliche Entscheidungen nur insoweit, als diesen Gestaltungswirkung oder Tatbestandswirkung zukommt. So ist etwa die rechtskräftige Vaterschaftsanfechtung im Strafverfahren wegen Verletzung der Unterhaltspflicht zu beachten (Hamm NJW 04, 2461). An eine rechtskräftige Verurteilung z...