Prof. Dr. Barbara Völzmann-Stickelbrock
1. Gesetzliche Möglichkeiten.
Rn 48
Als Instrument der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens kommt der materiellen Rechtskraft grds eine überragende Bedeutung zu. Es ist daher den Parteien grds verwehrt, die rechtskräftige Entscheidung mit der Behauptung anzugreifen, der Rechtsstreit sei unrichtig entschieden worden. Der Korrektur bloßer Rechtsanwendungsfehler setzt die materielle Rechtskraft stets eine Grenze. Auch eine Gesetzesänderung bzw ein Wandel der Rspr vermögen außerhalb der gesetzlich normierten Fälle (dazu § 323 Rn 35; § 323a Rn 13) die Rechtskraft nicht zu tangieren (für eine einheitlichere Handhabung höchstrichterlicher Praxiswechsel überzeugend Voß ZZP 134 [2021]). Das Gesetz sieht nur in engen Grenzen eine Beseitigung der bereits eingetretenen Rechtskraft vor. Hierzu gehören zur Vermeidung widersprechender Entscheidungen die Fälle der gerichtlichen Zuständigkeitsbestimmung bei rechtskräftigen Entscheidungen bei einem positiven (§ 36 Nr 5) oder negativen (§ 36 Nr 6) Kompetenzkonflikt. Die Rechtskraft wird für einen eng begrenzten Zeitraum wieder beseitigt durch die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach §§ 233 ff wegen schuldloser Versäumung einer Rechtsmittel-, Rechtsmittelbegründungs- oder Einspruchsfrist (BGHZ 98, 325, 328 = NJW 87, 327). Rechtskräftige Verurteilungen sind bei Verurteilung zu künftig fällig werdenden wiederkehrenden Leistungen bei wesentlichen Veränderungen an die neue Situation anzupassen im Wege der Abänderungsklage nach § 323 und der Nachforderungsklage nach § 324. Die Rechtskraft wird weiterhin durchbrochen im Rahmen eines Wiederaufnahmeverfahrens durch Nichtigkeitsklage nach § 579 bei den dort genannten schwerwiegenden Verfahrensfehlern oder Restitutionsklage nach § 580, wenn die Entscheidung in der Sache auf einem der als Restitutionsgründe normierten schweren Fehler beruht. Die Rechtskraft entfällt schließlich dann, wenn eine Entscheidung aufgrund einer Verfassungsbeschwerde nach § 95 II BVerfGG aufgehoben wird.
2. Beseitigung der Rechtskraft durch Klage nach § 826 BGB.
a) Grundlagen.
Rn 49
Über die gesetzlich geregelten Fälle der Rechtskraftdurchbrechung hinaus kann nach gefestigter Rspr der Grundsatz von Treu und Glauben der Berufung auf eine rechtskräftige, aber materiell unrichtige Entscheidung entgegenstehen. Die Rechtskraft muss nach der bereits vom Reichsgericht entwickelten und vom BGH fortgeführten Formel dann zurücktreten, wenn es mit dem Gerechtigkeitsgedanken schlechthin unvereinbar wäre, dass der Titelinhaber seine formelle Rechtsstellung unter Missachtung der materiellen Rechtslage zu Lasten seines Gegners ausnutzt. In diesen Fällen gewährt die Rspr in sehr engen Grenzen einen auf § 826 BGB gestützten Schadensersatzanspruch, mit dem sich der Schuldner gegen die Vollstreckung aus einem erschlichenen oder sittenwidrig ausgenutzten Titel zur Wehr setzen kann (stRspr zB RGZ 61, 359, 361, BGHZ 26, 391, 396 = NJW 58, 826; 101, 380, 384 = NJW 87, 3256; NJW 05, 2991, 2994; NJW-RR 12, 304 = MDR 12, 368 [BGH 01.12.2011 - IX ZR 56/11] m Anm Vollkommer). Der Anspruch ist gerichtet auf Unterlassung der Zwangsvollstreckung und Herausgabe des Titels. Eine aufgrund des rechtskräftigen Titels bereits freiwillig erbrachte oder zwangsweise beigetriebene Leistung kann als Schadensersatz in Geld zurückverlangt werden (BGH NJW 86, 1751, 1753). Ziel der Klage nach § 826 BGB ist nicht die Aufhebung der rechtskräftigen Entscheidung. Daher sind die Streitgegenstände der beiden Prozesse weder identisch, noch wird das kontradiktorische Gegenteil der im ersten Prozess ausgesprochenen Rechtsfolge begehrt. Die Rspr hat aus diesem Grund lange Zeit die Ansicht vertreten, dass die Schadensersatzklage nach § 826 BGB das unrichtige Urt in seinem Bestand unberührt lasse und nur den hierdurch entstandenen Schaden ausgleiche (RGZ 78, 389, 393; BGHZ 50, 115, 118 = NJW 68, 1275). Die Unrichtigkeit des angegriffenen Urteils ist aber Voraussetzung für die Bejahung eines Schadensersatzanspruchs nach § 826 BGB. Da die Rechtskraft des Urteils grds eine erneute Entscheidung über das Bestehen oder Nichtbestehen des Anspruchs verbietet, liegt in der Feststellung der materiellen Unrichtigkeit der ergangenen Entscheidung eine Durchbrechung der Rechtskraft dieses Titels (heute allgA BGHZ 151, 316, 327 = NJW 02, 2940; MüKoZPO/Gottwald § 322 Rz 225).
b) Kritik und Stellungnahme.
Rn 50
Das Prozessrecht regelt die Abwehr evident unrichtiger Urteile abschließend. Fälle der Rechtskraftdurchbrechung sind in der ZPO enumerativ aufgezählt. Dabei zählt die materielle Unrichtigkeit des Titels für sich gesehen noch nicht zu den Restitutionsgründen des § 580, in denen der Gesetzgeber die Rechtskraft eines Titels nur im Falle eines evidenten Nachweises der Unrichtigkeit beseitigt wissen will. Die Anerkennung einer ohne die strengen Voraussetzungen des Restitutionsrechts gegebenen Möglichkeit der Rechtskraftdurchbrechung negiert diesen gesetzgeberischen Willen. In der Literatur ist daher die Möglichkeit einer Rechtskraftdurchbrechung mit der Klage nach § 826 BGB zu Recht scharf kritisiert worden, da sie die Vorschriften des Wiederaufnahmerechts u...