Prof. Dr. Barbara Völzmann-Stickelbrock
Rn 3
Nicht nur in der Art der Entscheidung, sondern va auch in seiner Wirkung unterscheidet sich der Musterentscheid von sonstigen gerichtlichen Entscheidungen. § 22 I 1 KapMuG ordnet zunächst eine innerprozessuale Bindungswirkung der Prozessgerichte an den Musterentscheid an, vergleichbar dem früheren Rechtsentscheid in Mietsachen.
Rn 4
Trotz der Stellung der Verweisungsnorm hinter § 325 wird die weitergehende Wirkung des Musterentscheids für und gegen alle Parteien nicht durch eine Rechtskrafterstreckung auf Dritte erzielt. Die Wirkung ist hinsichtlich der Bindung in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht sowie des Einwands der mangelhaften Prozessführung vielmehr der Interventionswirkung der §§ 68, 74 nachgebildet (dazu Meller-Hannich ZBB 11, 180, 188). Sie unterscheidet sich jedoch von der Interventionswirkung dadurch, dass es nicht um die Vorgreiflichkeit für einen Folgeprozess zwischen einer der Parteien und einem Dritten geht, sondern eine unmittelbare Wirkung des Musterentscheids für die Beteiligten von Parallelprozessen eintritt. Alle diejenigen Beteiligten, deren Verfahren aufgrund des Musterverfahrens nach § 8 KapMuG ausgesetzt wurden und die damit nicht Musterkläger oder Musterbeklagter sind, haben nach § 9 I Nr 3 KapMuG die Stellung von Beigeladenen. Der Musterentscheid wirkt für und gegen alle Beigeladenen, unabhängig davon, ob sich diese beteiligt haben, § 22 I 2 KapMuG. Dies gilt auch dann, wenn diese ihre Klage in der Hauptsache nach dem Aussetzungsbeschluss zurückgenommen haben, § 22 I 3 KapMuG. Die Bindungswirkung zu Lasten der Beigeladenen wird in § 22 III KapMuG entsprechend § 68 Hs 2 beschränkt. Diese sind an den Musterentscheid dann nicht gebunden, wenn sie durch die Lage des Musterverfahrens zz ihrer Beiladung oder das Verhalten der Hauptpartei gehindert waren, Angriffs- oder Verteidigungsmittel geltend zu machen oder die Hauptpartei ihnen unbekannte Angriffs- oder Verteidigungsmittel absichtlich oder durch grobes Verschulden nicht geltend gemacht hat. Schließlich wirkt auch der im Rechtsbeschwerdeverfahren vom BGH getroffene Musterentscheid unabhängig von deren Beitritt für und gegen die Beigeladenen, § 22 V KapMuG.
Rn 5
Die Wirkung des § 22 KapMuG bezieht sich nur auf Parallelprozesse. Keine Bindungswirkung entfaltet der Musterentscheid für diejenigen Geschädigten, welche bis zum rechtskräftigen Abschluss des Musterverfahrens noch nicht wirksam Klage erhoben hatten und damit nicht zu Beigeladenen geworden sind. Eine präjudizielle Bedeutung wird dem Ausgang des Musterverfahrens aber in jedem Fall auch für spätere Prozesse von Geschädigten zukommen (zur grenzüberschreitenden Anerkennung der Bindungswirkung KK-KapMuG/Hess § 22 Rz 32 ff). Umstritten ist, ob ein negativer Musterentscheid auch Präklusionswirkung für im Musterverfahren unbekannte Tatsachen entfaltet (dazu Zö/Vollkommer § 325a Rz 4).
Rn 6
Da das Musterverfahren einen eigenen Streitgegenstand hat, erwächst der Musterentscheid nach § 22 II KapMuG in Rechtskraft, soweit über Feststellungsziele des Musterverfahrens entschieden wurde (Gebauer ZZP 119 [06], 159, 172), wobei iE äußerst zweifelhaft ist, in welchem Umfang sich diese über den Entscheidungssatz hinaus auch auf die tatsächlichen und rechtlichen Feststellungen erstreckt (BTDrs 15/5091, 31; Lüke ZZP 119 [06], 131, 147 ff; Vorwerk/Wolf/Lange KapMuG, Einl Rz 42 ff.; umf zum Streitstand KK-KapMuG/Hess § 16 Rz 10 ff). Da es sich bei dem Musterverfahren um ein Vorlageverfahren und nicht um ein Aussetzungsverfahren handelt, entfaltet der Musterentscheid richtigerweise nur eine Bindungswirkung im Ausgangsverfahren, jedoch keine darüber hinausgehende Rechtskraftwirkung (Vorwerk/Wolf/Vorwerk/Wolf KapMuG, § 22 Rz 4).
Rn 7
Die formelle Rechtskraft des Musterentscheids tritt nach § 20 KapMuG einen Monat nach Zustellung an den Musterkläger bzw die Musterbeklagten ein (BTDrs 15/5091, 29). Für die Fälle der einfachen bzw notwendigen Streitgenossenschaft gelten die allgemeinen Regeln (s § 61 Rn 6, § 62 Rn 25).