I. Tatsächliche oder rechtliche Verhinderung des an sich zuständigen Gerichts an der Ausübung des Richteramts in einem einzelnen Fall (§ 36 I Nr 1).
Rn 2
Das ›verhinderte‹ Gericht muss ungeachtet der etwaigen Zuständigkeit auch anderer Gerichte für den konkret in Rede stehenden Rechtsstreit örtlich und sachlich zuständig sein. Eine Verhinderung eines ganzen Gerichts aus tatsächlichen Gründen, wie sie etwa im Kriegszustand, bei Ausbruch lokal beschränkter Epidemien oder im Falle schwerer Naturkatastrophen vorstellbar wäre, ist unter den heutigen Bedingungen wenig wahrscheinlich, so dass diese Tatbestandsvariante in der Praxis bislang irrelevant geblieben ist. Eine Verhinderung aus rechtlichen Gründen kommt dann in Betracht, wenn der einzige Richter (eines Amtsgerichts) oder sämtliche Richter des Gerichts von der Ausübung ihres Amtes kraft Gesetzes (§ 41) oder infolge Ablehnung (§ 42) ausgeschlossen sind (Nürnbg Beschl v 22.3.22 – 7 AR 165/22 – juris; Bremen OLGR 08, 375, 376). Allein das Stellen von pauschalen Ablehnungsanträgen gegen sämtliche Richter eines Gerichts durch eine Prozesspartei reicht nicht aus, um § 36 I Nr 1 zu erfüllen, da eine pauschale Ablehnung eines Gerichts grds infolge Rechtsmissbräuchlichkeit unbeachtlich ist (Bremen OLGR 08, 375, 376). Im Falle eines Kollegialgerichts setzt dies zudem voraus, dass auch unter Berücksichtigung der Vertretungsregelungen des Geschäftsverteilungsplans eine ordnungsgemäße Besetzung des Spruchkörpers nicht mehr in Betracht kommt (BGH Beschl v 23.8.16 – X ARZ 292/16 – juris). Bei der Bestimmung des Gerichts ist – entspr dem Vorgehen bei § 36 I Nr 3 – nach Zweckmäßigkeit und Prozesswirtschaftlichkeit auszuwählen, da die Lage vergleichbar ist (Schlesw Beschl v 27.3.23 – 2 AR 4/23, Rz 11 – juris; BeckOKZPO/Toussaint § 36 Rz 6).
II. Ungewissheit der Zuständigkeit eines Gerichts mit Rücksicht auf die Grenzen verschiedener Gerichtsbezirke (§ 36 I Nr 2).
Rn 3
Knüpft eine Zuständigkeitsregelung an eine bestimmte Lokalität an (Wohnsitz, Ort der unerlaubten Handlung, Erfüllungsort etc) und ist es auf Grund von Unklarheiten über den Grenzverlauf zwischen den in Frage kommenden Gerichtsbezirken unklar, welchem Gerichtsbezirk diese Lokalität zuzuordnen ist, kann diese Unklarheit durch eine Zuständigkeitsbestimmung nach § 36 I Nr 2 überwunden werden (BVerfG GrundE 94, 461). § 36 I Nr 2 ist überdies tatbestandlich erfüllt, wenn der Grenzverlauf zwischen in Frage kommenden Gerichtsbezirken feststeht, indes nicht aufklärbar ist, wo sich das für die Zuständigkeitsanknüpfung relevante Ereignis (zB Kollisionsort bei einem Verkehrsunfall) verwirklicht hat.
III. Fehlen eines gemeinsamen besonderen Gerichtsstands für Streitgenossen, die bei verschiedenen Gerichten ihren allgemeinen Gerichtsstand haben und als Streitgenossen im allgemeinen Gerichtsstand verklagt werden sollen (§ 36 I Nr 3).
1. Anwendbarkeit.
Rn 4
§ 36 I Nr 3 ist auf sämtliche Verfahrensarten der ZPO (wie etwa das selbstständige Beweisverfahren, BayObLG Beschl v 10.6.20 – 1 AR 45/20, Rz 21 – juris; NJW-RR 99, 1010; bei Forderungspfändung, Hamm Beschl v 14.7.16 – I-32 SA 45/16, Rz 2 – juris) anwendbar, also auch im Prozesskostenhilfeverfahren (Hamm Beschl v 4.7.17 – 32 SA 37/17, Rz 9 juris) und seit dem 1.7.07 auch auf Wohnungseigentumssachen (München NZM 08, 528, 529 [OLG München 20.02.2008 - 31 AR 18/08]). In direkter Anwendung erfasst § 36 I Nr 3 nur die Zuständigkeitsbestimmung hinsichtlich der örtlichen Zuständigkeit. § 36 I Nr 3 lässt aber in analoger Anwendung auch eine Zuständigkeitsbestimmung bzgl der sachlichen Zuständigkeit (BGH NJW 84, 1624; Hamm Beschl v 4.7.17 – 32 SA 37/17, Rz 10 –, juris) zu, wie etwa für den Fall, dass für die Klage gegen einen Streitgenossen das Amtsgericht und gegen den anderen das LG streitwertbedingt sachlich zuständig ist. Auch bei Verbindung einer WEG-Sache mit einem sonstigen str ZPO-Verfahren findet § 36 I Nr 3 Anwendung; die ausschließliche sachliche Zuständigkeit des AG als WEG-Gericht hindert die Bestimmung nicht (Celle Beschl v 7.1.21 – 18 AR 33/20, Rz 3 – juris mwN).
Des Weiteren kommt auch eine analoge Anwendung des § 36 I Nr 3 auf den Fall der Bestimmung der funktionellen Zuständigkeit in Betracht, wobei für die jeweilige Fallkonstellation zu prüfen ist, ob eine Verfahrensverbindung im Hinblick auf die spezifische Eigenart der jeweiligen Zuständigkeitszuweisung und die damit verfolgten Zwecke zulässig ist. Demnach kommt eine Zuständigkeitsbestimmung hinsichtlich der funktionellen Zuständigkeit analog § 36 I Nr 3 etwa in Betracht, wenn die allgemeine Zivilkammer einerseits und die Kammer für Handelssachen andererseits BayObLG Beschl v 25.7.22 – 101 AR 36/22, Rz 36 – juris; Nürnbg Beschl v 7.1.19 – 1 AR 2663/18, Rz 6 – juris; BayObLG NJW-RR 99, 1010, 1011 [BayObLG 20.10.1998 - 1Z AR 75/98]; München MDR 12, 1153 [OLG München 25.07.2012 - 34 AR 196/12]; Stuttg Beschl v 2.6.16 – 3 AR 5/16 – juris) zuständig wäre, nicht aber, wenn die jeweils zuständigen Gerichte bzw Spruchkörper verschiedene Verfahrensordnungen anzuwenden haben (München NZM 08, 528, 529 [OLG München 20.02.2008 - 31 AR 18/08]). § 36 I Nr 3 ist auch im Anwendungsbereich des FamFG, dessen Zuständigkeitsbestimmungsnorm (§ 5 FamFG) eine § 36 I Nr 3 entsprechende Vorschrift nicht kennt, kraft ausdrücklicher Verweisung (§ 113 I FamFG, § 36 ZPO) auf Ehesachen und Familienstreitsachen (§ 112 FamFG) anwendbar. Daher dürfte es für die Familienstreitsachen (§ 112 FamFG) nach diesseitiger Auffassung bei der Rspr aus der Zeit vor Inkrafttreten ...