Rn 2
Die Beweisaufnahme, hier: die Zeugenvernehmung durch den beauftragten oder ersuchten Richter stellt zunächst eine Abkehr vom Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme dar (§ 355). Zulässig ist sie daher nur unter Beachtung nachfolgender Voraussetzungen. Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, so berechtigt dies das Prozessgericht keineswegs, die Beweisaufnahme gänzlich zu unterlassen; vielmehr hat sie dann unmittelbar vor dem Prozessgericht stattzufinden (Nürnb OLGR Nürnb 03, 352). Über § 451 gilt die Vorschrift auch für die Anhörung von Parteien, und zwar auch im Anwendungsbereich des FamFG (BGH NJW-RR 16, 583 [BGH 21.01.2016 - I ZB 12/15], Rz 9). Auf die Anhörung eines Betroffenen im Betreuungsverfahren kann die Vorschrift nicht angewendet werden (BGH NJW 12, 317 [BGH 09.11.2011 - XII ZB 286/11], Rz 27).
I. Vorrang der Video-Vernehmung.
Rn 3
Die Video-Vernehmung von Zeugen hat in den Fällen des § 375 I Nr 2 und 3 stets Vorrang; ein Vorgehen gem § 375 kommt also nur dann in Betracht, wenn eine Vernehmung gem der Vorschrift des § 128a II – zu deren Akzeptanz s § 128a Rn 1 – nicht stattfindet.
II. Würdigung der Glaubwürdigkeit.
Rn 4
Weitere Voraussetzung des § 375 I ist, dass das Prozessgericht prognostisch das Beweisergebnis auch ohne unmittelbaren Eindruck von dem Verlauf der Beweisaufnahme sachgemäß zu würdigen vermag (Bremen OLGR Bremen 09, 352, Rz 13). Wenn es also auf die Glaubwürdigkeit eines Zeugen ankommt, wird ein Verfahren gem § 375 regelmäßig ausscheiden, zB dann, wenn einander widersprechende Aussagen von Zeugen zu erwarten sind (Zö/Greger § 375 Rz 1; BSG 12.9.18 – B 14 AS 414/17 B Rz 11). Diese Voraussetzung führt im Ergebnis dazu, dass bei sachgerechter Anwendung § 375 weitgehend leer laufen muss. Hat das Prozessgericht zB die Vernehmung zweier Zeugen im Wege der Rechtshilfe angeordnet und hat dies einander widersprechende Aussagen der Zeugen erbracht, so erwächst dem Prozessgericht aus § 398 die Pflicht, die Glaubwürdigkeit der Zeugen durch deren wiederholte, unmittelbare Vernehmung eigenständig zu beurteilen (Frankf OLGR Frankf 07, 321). Nur in den Fällen, in denen ein ›unangefochtener‹ Zeuge lediglich objektiv nachprüfbare Daten mitzuteilen hat, wird es nicht auf den persönlichen Eindruck vom Zeugen ankommen. In der praktisch weitaus größten Zahl der Fälle wird das – gesamte – Prozessgericht daher die Zeugenvernehmung nicht umgehen können.
III. Gesetzliche Vorschriften.
Rn 5
Im Sinne des § 375 I Nr 1 Alt. 2 vorgeschrieben ist die Vernehmung von Zeugen außerhalb des Gerichts zB durch § 375 II (Bundespräsident) und § 382 (Minister und Abgeordnete des Bundes und der Länder).
IV. § 375 I Nr 1 Alt 1.
Rn 6
Sachdienlich iSd § 375 I Nr 1 ist die Zeugenvernehmung zB dann, wenn sie mit einem Augenschein verbunden wird (zB: zur Beurteilung eines Verkehrsunfalles wird ein Ortstermin an der Unfallstelle anberaumt, zu dem ein SV beigezogen wird; die Zeugen sollen dem Gericht und dem SV an Ort und Stelle den Unfallhergang verdeutlichen. Dieses Bsp zeigt zugleich, dass die Durchführung der Beweisaufnahme durch das Prozessgericht, das letztlich auch über die dem SV zu liefernden Anknüpfungstatsachen entscheiden muss, häufig unausweichlich sein wird, ein Fall des § 375 I Nr 1 Alt 1 also gerade nicht vorliegt).
V. § 375 I Nr 2.
Rn 7
Der praktisch relevante Fall der Verhinderung des Zeugen iSd § 375 I Nr 2 (neben Inhaftierung und hohem Alter) ist seine zur Reiseuntauglichkeit führende Erkrankung, die zu einer Vernehmung ›am Krankenbett‹ nötigt. Lebt der Zeuge im Ausland und weigert er sich, vor einem deutschen Gericht zu erscheinen, so ist er nicht unerreichbar iSd § 363; vielmehr ist er durch den Rechtshilferichter zu vernehmen (BGH 22.7.21 – I ZR 180/20, Rz 23 = MDR 21, 1409).
VI. § 375 I Nr 3.
Rn 8
Eine große Entfernung (genauer: der damit zwingend verbundene Aufwand an Zeit und Kosten) eines Zeugen von der Gerichtsstelle rechtfertigt grds dessen kommissarische Vernehmung, § 375 I Nr 3. Hierzu ist der genannte Aufwand in das Verhältnis zu setzen ist zu der Bedeutung der Aussage des Zeugen (dh in der Gerichtspraxis: zum Streitwert; zu Recht sind zB 200 km bei einem Streitwert von 100.000 EUR nicht als zu weit erachtet worden, Frankf IBR 11, 251, Rz 21) mit dem Ergebnis, dass ihm die Anreise nicht zuzumuten sei. Abzuwägen ist dies mit dem Recht der Prozessbeteiligten, der Vernehmung des Zeugen beizuwohnen und ihm Fragen zu stellen (§ 397 I). Soll dieses – in der Praxis dem einen anwaltlichen Vertreter, der in den Fall eingearbeitet ist, zustehende – Recht nicht ausgehöhlt werden, wird man nicht leichter Hand dem Anwalt statt des Zeugen die Anreise zumuten können. Dass der Termin zur Beweisaufnahme vor dem Richterkommissar den Parteien mitzuteilen ist (§ 357 II), ist eine prozessuale Selbstverständlichkeit, vermag aber nicht den Nachteil auszugleichen, den die nahe am Prozessgericht, aber fern vom Richterkommissar wohnende Partei erleidet, wenn nicht ihr Prozessbevollmächtigter, sondern lediglich ein unterbevollmächtigter Anwalt den Termin wahrnimmt.
VII. § 375 Ia.
Rn 9
Für die Vernehmung durch den beauftragten (also nicht für den ersuchten) Richter eröffnet § 375 Ia die Ver...