I. Ermessen.
Rn 2
§ 398 I stellt die wiederholte Vernehmung des Zeugen in das pflichtgemäße Ermessen des Prozessgerichts. Die frühere Vernehmung kann in einer anderen Instanz (BGH NJW 61, 2308 [BGH 20.09.1961 - V ZR 46/60]; s.u. Rn 4) oder auch vor einem ersuchten oder beauftragten Richter (Musielak/Voit/Huber § 398 Rz 2; vgl § 400) oder im selbstständigen Beweisverfahren (BGH NJW 70, 1919, 1920 [BGH 29.05.1970 - V ZR 24/68]) stattgefunden haben. Die frühere Vernehmung muss aber durchgeführt worden sein; hat der Zeuge früher – zu Recht oder zu Unrecht – die Aussage verweigert und ist er nunmehr aussagebereit, oder soll der Zeuge nunmehr zu einem anderen Beweisthema aussagen, so liegt kein Fall des § 398 I vor (BGH NJW 61, 2308 [BGH 20.09.1961 - V ZR 46/60]; Musielak/Voit/Huber § 398 Rz 2).
II. Pflicht.
Rn 3
Das Ermessen kann sich aber zur Pflicht verdichten. Dies gilt va dann, wenn einer früheren Aussage mangels Glaubwürdigkeit des Zeugen nicht gefolgt werden soll (BGH NJW 82, 2874, 2875 [BGH 27.05.1982 - III ZR 201/80]; 90, 3088, 3089 f [für den Fall der Vernehmung im Wege der Rechtshilfe im Ausland]). Den hierzu erforderlichen persönlichen Eindruck vom Zeugen wird sich das (Kollegial-)Gericht nur unmittelbar verschaffen können und deshalb den Zeugen (erneut) anhören müssen (BGH NJW 97, 1586, 1587). Gleiches gilt, wenn nach einem Richterwechsel der neu (ggf im Kollegium) berufene Richter über die Glaubwürdigkeit des Zeugen befinden soll (BGH NJW 95, 1292, 1293). Zwar erfordert ein Richterwechsel nach einer Beweisaufnahme nicht grds deren Wiederholung; frühere Zeugenaussagen können im Wege des Urkundenbeweises durch Auswertung des Vernehmungsprotokolls verwertet werden. Das Gericht darf aber dann bei der Beweiswürdigung nur das berücksichtigen, was auf der Wahrnehmung aller an der Entscheidung beteiligten Richter beruht oder aktenkundig ist und wozu die Parteien sich erklären konnten. Das gilt vor allem dann, wenn das Gericht den persönlichen Eindruck eines Zeugen zur Beurteilung seiner Glaubwürdigkeit heranziehen will. Eindrücke, die nicht in das Verhandlungsprotokoll aufgenommen worden sind, zu denen also die Parteien auch keine Stellung nehmen konnten, dürfen daher nach einem Richterwechsel bei der Entscheidung nicht verwertet werden, selbst wenn von drei mitwirkenden Richtern nur einer an der Beweisaufnahme nicht teilgenommen hat (BGH NJW 17, 131 Rz 28). Eine Ausnahme gilt also für den Fall, dass der (ersuchte oder beauftragte oder früher zuständige) Richter seine Eindrücke von Umständen, die für die Glaubwürdigkeit des Zeugen oder für die Glaubhaftigkeit seiner Aussage von Belang sind, in dem Protokoll niedergelegt oder sonst aktenkundig gemacht hat, wenn die Parteien Gelegenheit hatten, sich dazu zu äußern, und wenn das Gericht danach in der Lage ist, selbst die Glaubwürdigkeitsfrage zuverlässig beantworten zu können (BGH NJW 1982, 580, 581 [BGH 09.07.1981 - III ZR 189/79]; NJW-RR 1997, 506 [BGH 09.01.1997 - III ZR 162/95]). Will nach einem Richterwechsel der neue Richter die Aussage anders würdigen als sein Vorgänger (der seine Beweiswürdigung aktenkundig gemacht hat), so hat der neue Richter die Beweisaufnahme aber trotzdem zu wiederholen (Naumbg MDR 14, 743 Rz 12). Eine Ausnahme vom Wiederholungsgebot kommt auch in Betracht, wenn über den Zeugen ein schriftliches Glaubwürdigkeitsgutachten eingeholt wurde (München NJW-RR 08, 1523, 1525). Das Ermessen gem Abs 1 wird hingegen auf Null reduziert sein, wenn iRd wiederholten Vernehmung eine Gegenüberstellung gem § 394 II durchgeführt werden soll (Zö/Greger § 398 Rz 2). Hat das Prozessgericht die Vernehmung zweier Zeugen im Wege der Rechtshilfe angeordnet und hat dies einander widersprechende Aussagen der Zeugen erbracht, so erwächst dem Prozessgericht aus § 398 die Pflicht, die Glaubwürdigkeit der Zeugen durch deren wiederholte, unmittelbare Vernehmung eigenständig zu beurteilen (Frankf OLGR Frankf 07, 321).
III. Berufungsinstanz.
Rn 4
Für die Frage, ob in der Berufungsinstanz entgegen § 398 I eine Pflicht zur erneuten Vernehmung besteht, gelten die Regeln des § 529 (BGH NJW 04, 1876 [BGH 12.03.2004 - V ZR 257/03]). Insbesondere muss das Berufungsgericht, will es die Glaubwürdigkeit eines Zeugen anders würdigen oder den Sinngehalt seiner protokollierten Aussage anders verstehen, würdigen oder werten als die 1. Instanz, den Zeugen erneut persönlich anhören, anderenfalls ein Verstoß gegen Art 103 I GG (rechtliches Gehör) anzunehmen ist (BGH VersR 23, 1391 Rz 6; 28.2.23 – VI ZR 98/22 Rz 6 = NJW-RR 23, 700; 25.10.22 – VI ZR 382/21 Rz 9 = MDR 23, 118; NJW 18, 308 Rz 9; WM 18, 1845 Rz 29; NJW-RR 17, 1101, Rz 14). Eine erneute Vernehmung kann allenfalls dann unterbleiben, wenn das Berufungsgericht seine abweichende Würdigung auf solche Umstände stützt, die weder die Urteilsfähigkeit, das Erinnerungsvermögen oder die Wahrheitsliebe des Zeugen (also seine Glaubwürdigkeit) noch die Vollständigkeit und Widerspruchsfreiheit (dh die Glaubhaftigkeit) seiner Aussage betreffen (§ 529 Rn 13; st Rsp des BGH seit NJW 91, 3...