Prof. Dr. Christian Katzenmeier
I. Voraussetzungen.
1. Sachverständigengutachten.
Rn 4
Es muss sich um ein Sachverständigengutachten handeln (nicht eine sachverständige Zeugenaussage, § 414). Unproblematisch gilt die Vorschrift für Gutachten, die im damaligen Verfahren schriftlich vorgelegen haben. Soweit sie hinreichend protokolliert worden sind (vgl § 160 III Nr 4 ff), sind aber auch mündlich erstattete Gutachten sowie mündliche Erläuterungen verwertbar.
2. Identität des Beweisthemas oder gleichartiger Gegenstand.
Rn 5
Soll das verfahrensfremde Gutachten eine selbstständige Beweiserhebung völlig ersetzen, muss ihm dieselbe Beweisfrage zugrunde liegen (Zö/Greger § 411a Rz 3; Musielak FS Vollkommer 06, 237, 247; aA Saenger ZZP 121, 139, 156; offen Jena MedR 12, 266 [OLG Köln 25.05.2011 - 5 W 18/11]: bei Arzthaftung jedenfalls fachgleicher SV nötig). Anders bei lediglich zusätzlicher Verwertung des fremden Gutachtens: Hier muss der Gegenstand nicht identisch, sondern nur insoweit gleichartig sein, als die Verwertung zur Beantwortung der Beweisfrage beiträgt, und sei es durch parallele Schlussfolgerung. An dieser Gleichartigkeit fehlt es, wenn nach § 404a III das Prozessgericht selbst Tatsachen feststellen muss (München NJW-Spezial 11, 43 – red LS) oder wenn Feststellungen nötig sind, die ihrerseits die Beauftragung eines SV erfordern. Auch terminologische Divergenzen können der Übertragung im Wege stehen, vgl Rn 14.
3. Verfahrensarten.
Rn 6
Als gerichtliche Verfahren kommen auch solche nach FamFG (§ 113 I), InsO, ArbGG (§§ 46 II, 80 II), VwGO (§ 98), SGG, StPO (§§ 72 ff) usw in Betracht, nicht jedoch Verfahren vor ausländischen Gerichten (aA MüKoZPO/Zimmermann § 411a Rz 2). Seit der Neufassung durch das 2. JuMoG können außerdem von der Staatsanwaltschaft eingeholte Gutachten (§ 161a StPO) verwertet werden, nicht jedoch Gutachten aus Verwaltungsverfahren (zB § 26 I Nr 2 VwVfG; BVerfG NJW-RR 12, 393, 396 [BVerfG 26.10.2011 - 2 BvR 320/11]: amtsärztliches Zeugnis ungenügend). Für die Verwertung von Gutachten aus dem selbstständigen Beweisverfahren ist in dessen Anwendungsbereich § 493 lex specialis (zwischen denselben Parteien), iÜ § 411a.
II. Anordnung.
Rn 7
Liegen diese Voraussetzungen vor, so steht es grds im Ermessen des Gerichts, ob es das ›fremde‹ Gutachten beizieht (s.a. Köln VersR 11, 1397, 1400: § 355 kann entgegenstehen). Dabei hat es einen geäußerten Wunsch auf ein neues Gutachten zu berücksichtigen. Verlangen die Parteien übereinstimmend ein neues Gutachten, so ist das Gericht aufgrund der Verhandlungsmaxime daran gebunden (s.a. § 404 Rn 14; Zö/Greger § 411a Rz 3 [§ 144 I]; aA St/J/Berger § 411a Rz 12; HK-ZPO/Siebert § 411a Rz 3: Verfahrensbeschleunigung geht vor). Weiterhin sind ua die Gleichwertigkeit, Qualität und Beurteilung des Gerichts sowie Einwendungen der Parteien im früheren, ›einholenden‹ Verfahren zu berücksichtigen. Den Parteien muss vor Erlass der Anordnung Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben werden (BGH FamRZ 12, 297; Musielak/Voit/Huber § 411a Rz 11: einschl Beiziehung des Gutachtens und Übermittlung an die Parteien; BRDrs 550/06, 79; zweifelnd St/J/Berger § 411a Rz 16; s aber Stuttg BauR 11, 555, 558: rügelose Verhandlung macht Fehlen der Anordnung unbeachtlich, § 295 I). Die Anordnung bewirkt die Ernennung des SV für dieses Verfahren (Saenger ZZP 121, 139, 157) und ist ihm daher mitzuteilen.
III. Anzuwendende Vorschriften.
Rn 8
S Rn 2. Für die Frist des § 406 II 1 ist der Verwertungsbeschl des § 411a maßgeblich. Ein Verlust von Rechten im vorangegangenen Prozess ist grds irrelevant (St/J/Berger § 411a Rz 23; aA Musielak/Voit/Huber § 411a Rz 12). Entspr gilt für § 411 IV. Eine mündliche Erläuterung (auf Antrag zwingend) ist genauso wie eine schriftliche Ergänzung nach den allg Grundsätzen möglich. Für ein weiteres Gutachten gilt § 412. Zu § 408s Rn 10.
IV. Interessen des SV.
Rn 9
Bei der Verwertung des in einem früheren Verfahren erstatteten Gutachtens können Interessen des SV betroffen sein. Der SV ist stets zu informieren, s Rn 7.
1. Weigerungsrecht.
Rn 10
Wird der SV um eine Erläuterung oder Ergänzung gebeten, gelten die allg Regeln, insb § 408. Bei bloßer Verwertung des schriftlichen Gutachtens steht ihm ein Weigerungsrecht nach § 408 I 1 hingegen idR nicht zu (Fölsch MDR 04, 1029, 1030; Völzmann-Stickelbrock ZZP 118, 359, 382; aA Zö/Greger § 411a Rz 5). Anderes gilt nur, wenn die zu vermeidende Konfliktsituation zwar noch nicht bei der urspr Erstellung aber bei der Verwertung gleichermaßen gegeben ist (auch insoweit verneinend St/J/Berger § 411a Rz 20 f). Ruft der SV sein Gutachten nach § 42 UrhG zurück (›gewandelte Überzeugung‹), so ist es als solches jedenfalls nicht mehr geeignet, die Überzeugung des Gerichts zu begründen (MüKoZPO/Zimmermann § 411a Rz 15). Die Möglichkeit der Änderung in einer Ergänzung oder Erläuterung bleibt unberührt.
2. Vergütung.
Rn 11
Das JVEG sieht eine Vergütung nur vor, wenn und soweit ein zusätzlicher Aufwand entsteht, etwa im Fall einer mündlichen Erläuterung nach § 411 III.
3. Haftung.
Rn 12
Str ist, ob der SV gem § 839a BGB auch für Schäden haftet, die sein unrichtiges Gutachten durch eine unrichtige Entscheidung im Folgeprozess hervorgerufen hat. Dafür spricht, dass der Beweisbeschl die Ernennung fingiert (s Rn 7; MüKoZPO/Z...