I. Formelle Beweiskraft.
Rn 16
§ 416 regelt nur die formelle Beweiskraft der Urkunde; die materielle Beweiskraft hängt vom jeweiligen Beweisthema ab (zur Unterscheidung vgl § 415 Rn 7).
1. Von der Beweiskraft erfasste Tatsachen.
Rn 17
Die unversehrte (§ 419) und echte (§§ 439, 440) Urkunde erbringt formellen Beweis für die Abgabe der in ihr enthaltenen Erklärung durch den Aussteller (vgl BGH NJW-RR 15, 819, 820 [BGH 12.03.2015 - V ZR 86/14]). Damit ist auch bewiesen, dass der Aussteller die Urkunde willentlich in den Verkehr gebracht hat (BGH NJW-RR 03, 384 [BGH 18.12.2002 - IV ZR 39/02]; NJW-RR 06, 847 [BGH 08.03.2006 - IV ZR 145/05] – hier ›Begebung‹ genannt; MüKoZPO/Schreiber § 416 Rz 9; Wieczorek/Schütze/Ahrens § 416 Rz 18; St/J/Berger § 416 Rz 10; Zö/Feskorn§ 416 Rz 8; ThoPu/Seiler § 416 Rz 3). Diese sog Begebung wird auch dann von der Beweiswirkung erfasst, wenn die Urkunde erst auf besondere Anweisung übermittelt werden soll (BGH NJW 13, 3306, 3308 [BGH 10.07.2013 - IV ZR 224/12] [Begebung der Anfechtung eines Erbvertrags]). Die Beweisregel gilt dagegen nicht für den Zugang der Erklärung (MüKoZPO/Schreiber § 416 Rz 9; Wieczorek/Schütze/Ahrens § 416 Rz 20; Anders/Gehle/Gehle ZPO § 416 Rz 14; Musielak/Voit/Huber § 416 Rz 4). Der Beweis der Abgabe nach § 416 erfasst ebenfalls nicht den Beweis der Begebung der Urkunde, die im Wertpapierrecht materiell-rechtliche Tatbestandsvoraussetzung ist (MüKoZPO/Schreiber § 416 Rz 10; St/J/Berger § 416 Rz 11; aA Wieczorek/Schütze/Ahrens § 416 Rz 18).
2. Von der Beweiskraft nicht erfasste Tatsachen.
Rn 18
Von der Beweisregel des § 416 nicht erfasste Umstände unterliegen der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 286 I). Das gilt insb für Ort und Zeit der Abgabe der Erklärung (BGH NJW-RR 90, 737, 738; 93, 1379, 1380 [BGH 24.06.1993 - IX ZR 96/92]; MüKoZPO/Schreiber § 416 Rz 9; Musielak/Voit/Huber § 416 Rz 4; Wieczorek/Schütze/Ahrens § 416 Rz 18, 23). Ist in der Urkunde ein Datum enthalten, ist damit nur die Angabe des Datums formell bewiesen, nicht aber die Richtigkeit der Angabe (BGH NJW-RR 90, 737, 738 [BGH 05.02.1990 - II ZR 309/88]; Wieczorek/Schütze/Ahrens § 416 Rz 23; Musielak/Voit/Huber § 416 Rz 4).
Rn 19
Die inhaltliche Richtigkeit der Erklärung ist nicht Gegenstand des Urkundenbeweises nach § 416. Ob die in der Urkunde bestätigten Vorgänge wirklich geschehen sind, ob insb ein Rechtsgeschäft zustande gekommen ist und welchen Inhalt es ggf hat, unterliegt also der freien richterlichen Beweiswürdigung (BGH NJW-RR 89, 1323, 1324 [BGH 11.05.1989 - III ZR 2/88]; NJW-RR 15, 819, 820 [BGH 12.03.2015 - V ZR 86/14] mwN; NJW 19, 421, 423 [BVerfG 20.11.2018 - 1 BvR 2716/17]). Bei unterschriebenen Vertragsurkunden ist allerdings die Vollständigkeit und Richtigkeit tatsächlich zu vermuten. Der Gegner, der sich auf eine mündliche Nebenabrede beruft, hat diese zu beweisen (BGH NJW 80, 1680, 1681; ZIP 05, 391, 393; Wieczorek/Schütze/Ahrens § 416 Rz 27; MüKoZPO/Schreiber § 416 Rz 10; Zö/Feskorn § 416 Rz 10; vgl auch Jena MDR 20, 1399 [OLG Jena 26.06.2020 - 4 U 279/19]). Entsprechend genießen Sitzungsniederschriften nach § 34 BetrVG vor dem Hintergrund ihrer besonderen Dokumentationsfunktion und den Schutzvorkehrungen gegen mögliche Unrichtigkeiten einen besonderen Beweiswert (BAG NZA 15, 370, 373). Unterschriebene Übernahmequittungen beweisen die Abgabe der Erklärungen; ihnen kommt damit ein materieller Beweiswert zu, der jedoch durch jeden Gegenbeweis entkräftet werden kann (BGH MDR 18, 750, 751; MDR 14, 1455 mwN). Derartige Vermutungen der Richtigkeit können freilich nicht auf § 416 selbst gestützt werden (Wieczorek/Schütze/Ahrens § 416 Rz 23; anders BGH ZIP 05, 391, 393; BAG NZA 15, 370, 373; vgl auch BGH MDR 18, 750, 751; MDR 14, 1455). Setzt die Wirksamkeit eines Geschäfts die (von der Abgabe zu unterscheidende) Begebung voraus, wird der Tatbestand der Begebung als solcher nicht von der formellen Beweiskraft erfasst; allerdings spricht der Besitz der Urkunde dafür, dass sie dem Besitzer ausgehändigt wurde (MüKoZPO/Schreiber § 416 Rz 10).
II. Beweis der Unrichtigkeit.
Rn 20
§ 416 enthält keine § 415 II und § 418 II vergleichbare Regelung, nach der gegen die formelle Beweiskraft der Urkunde der Beweis der Unrichtigkeit geführt werden könnte (funktionaler Gegenteilsbeweis, vgl § 415 Rn 30). Vergleichbare Unrichtigkeitsgründe gibt es bei der Privaturkunde nicht, zumal sie in ihrer Beweiskraft hinter der Beweiskraft öffentlicher Urkunden zurücksteht und iÜ bei Privaturkunden die mögliche Fehlerhaftigkeit eines Beurkundungsvorgangs keine Rolle spielt. Teilweise wird die Ansicht vertreten, dass gegen die gem § 416 formell erwiesenen Tatsachen kein Beweis der Unrichtigkeit dieser Tatsachen in Betracht komme, also auch nicht hinsichtlich des willentlichen Inverkehrbringens der Urkunde (MüKoZPO/Schreiber § 416 Rz 11; Musielak/Voit/Huber § 416 Rz 3). Nach hM kann der Aussteller jedoch den Gegenteilsbeweis führen, dass die Urkunde ihm entzogen wurde oder sonst abhandengekommen und damit nicht mit seinem Willen in den Verkehr gebracht wurde (BGH NJW-RR 06, 847, 848 f [BGH 08.03.2006 - IV ZR 145/05]; NJW 13, 3306, 3308 [BGH 10.07.2013 ...