Gesetzestext
Inwiefern Durchstreichungen, Radierungen, Einschaltungen oder sonstige äußere Mängel die Beweiskraft einer Urkunde ganz oder teilweise aufheben oder mindern, entscheidet das Gericht nach freier Überzeugung.
A. Normzweck.
Rn 1
Die Anwendung der festen Beweisregeln der §§ 415 ff setzt voraus, dass die Urkunde echt (§§ 437–440) und unversehrt ist. Aus der Urkunde muss sich zuverlässig ergeben, dass sie einem Aussteller zuzuordnen ist und ihr Inhalt dem Ausstellerwillen entspricht. Ist diese Zuverlässigkeit wegen eines äußeren Mangels der Urkunde nicht gewährleistet, dann fehlt die wesentliche Voraussetzung für die formelle Beweiskraft der Urkunde. Das gilt selbst dann, wenn die Unterschrift unter dem Urkundentext unstr echt ist, da die Unterschrift bei Vorliegen eines äußeren Mangels der Urkunde keine Gewähr dafür bietet, dass die Urkunde nicht nachträglich entgegen dem Willen des Ausstellers geändert wurde (Wieczorek/Schütze/Ahrens § 419 Rz 1; s.a. § 440 Rn 6). Aus diesem Grund können die bindenden Beweisregeln keine Anwendung finden, wenn eine Urkunde iSd § 419 mangelhaft ist. Der Wortlaut des § 419 ist insofern missverständlich, da er auch eine ›Minderung‹ oder ›teilweise Aufhebung‹ der strengen Beweisregeln zuzulassen scheint (vgl hierzu MüKoZPO/Schreiber § 419 Rz 1). Bei einem äußeren Mangel der Urkunde gelten die §§ 415 bis 418 jedoch von vornherein nicht. Die Urkunde unterliegt stattdessen in vollem Umfang der freien richterlichen Beweiswürdigung gem § 286 I (BGH DB 65, 1665; NJW 88, 60, 62 [BGH 25.03.1987 - IVa ZR 224/85]; NJW 92, 512, 513 [BGH 20.06.1991 - VII ZR 11/91] [doppelt gestempeltes Empfangsbekenntnis]; NJW 92, 829, 830 [BGH 21.01.1992 - XI ZR 71/91]; NJW 94, 2768 [BGH 15.04.1994 - V ZR 175/92]; BAG NZA 04, 670, 673 [BAG 29.04.2004 - 1 ABR 30/02]; BayObLG 31.7.2023 BeckRS 23, 19982; Hamm NJW-RR 08, 21 [OLG Hamm 14.08.2007 - 15 W 331/06]; St/J/Berger § 419 Rz 1; MüKoZPO/Schreiber § 419 Rz 1; Wieczorek/Schütze/Ahrens § 419 Rz 3).
B. Urkundenmängel.
Rn 2
Ein Urkundenmangel iSv § 419 ist ein Mangel im äußeren Erscheinungsbild der Urkunde, der auf die Möglichkeit einer nachträglichen Veränderung entgegen dem Willen des Ausstellers oder auf einen Aufhebungswillen schließen lässt (Wieczorek/Schütze/Ahrens § 419 Rz 6; vgl auch LG Stuttgart WuM 21, 321). Der äußere Mangel muss sich also immer aus der Urkunde selbst ergeben.
I. Veränderungen der Urkunde.
Rn 3
Veränderungen der Urkunde, die die formelle Beweiskraft außer Kraft setzen, sind zum einen die Veränderungen von Menschenhand wie Streichungen (RGZ 129, 165, 167; MüKoZPO/Schreiber § 419 Rz 2), Einschübe (BGH NJW 94, 2768 [BGH 15.04.1994 - V ZR 175/92]; BGH NJW-RR 89, 1323 [BGH 11.05.1989 - III ZR 2/88]; Wieczorek/Schütze/Ahrens § 419 Rz 10) oder Änderung von Zahlen. Hierzu können auch Auffälligkeiten im Schriftbild zählen, wenn die Auffälligkeit auf nachträgliche Veränderungen schließen lässt (Musielak/Voit/Huber § 419 Rz 1; Wieczorek/Schütze/Ahrens § 419 Rz 7). Die Veränderung der Urkunde kann zum anderen eine natürliche Ursache haben, zB Verblassen der Schrift, Flecken usw (MüKoZPO/Schreiber § 419 Rz 2; Wieczorek/Schütze/Ahrens § 419 Rz 7). Ob die Urkunde an einem die formelle Beweiskraft aufhebenden äußerlichen Mangel leidet, bestimmt sich objektiv, also unabhängig vom Parteiwillen (Wieczorek/Schütze/Ahrens § 419 Rz 8; MüKoZPO/Schreiber § 419 Rz 3).
II. Veränderungen ohne Beweiskraftverlust.
Rn 4
Eine Privaturkunde ist dann nicht mangelhaft, wenn der Aussteller die Veränderung genehmigt und sich diese Genehmigung aus der Urkunde selbst ergibt. Da Privaturkunden mit der Beweiskraft des § 416 ausgestellt werden können, muss der Aussteller die Urkunde folgerichtig auch ändern können, ohne dass damit ihre Beweiskraft betroffen würde (BGH NJW 74, 1083, 1084; MüKoZPO/Schreiber § 419 Rz 3; Wieczorek/Schütze/Ahrens § 419 Rz 13; aA St/J/Berger § 419 Rz 1: § 286).
Rn 5
Eine öffentliche Urkunde wird ohne Verlust der Beweiskraft geändert, wenn das für die Änderung vorgesehene Verfahren eingehalten ist (vgl BGH DNotZ 56, 643, 644 f [BGH 22.02.1956 - V ZR 114/54]; 95, 27, 28 [BGH 28.01.1994 - V ZR 131/92]), also etwa für die Protokollberichtigung die Anforderungen des § 164, für die Urteilsberichtigung § 319. Das Verfahren zur Änderung notarieller Urkunden richtet sich nach § 44a BeurkG. Wurde das Verfahren für eine Änderung der Urkunde nicht eingehalten, wird die fehlerhafte Änderung nicht von der Beweiskraft der öffentlichen Urkunde erfasst; mangels Richtigkeitsvermutung ist die Urkunde frei zu würdigen (Ddorf RNotZ 14, 191, 193). Obwohl § 44a BeurkG an sich sowohl Beurkundungen nach den §§ 8 ff BeurkG als auch Tatsachenurkunden nach den §§ 36, 37 BeurkG erfasst, sind die hier geregelten Änderungsverfahren doch in erster Linie auf die Beurkundung von Willenserklärungen (Urkunden über Erklärungen iSv § 415) zugeschnitten. § 44a BeurkG gilt nicht für Textberichtigungen bei einer Unterschriftsbeglaubigung (s hierzu § 440 Rn 6).
C. Beweiswürdigung.
Rn 6
Bei einer äußerlich mangelhaften Urkunde finden die gesetzlichen Beweisregeln der §§ 415 bis 418 keine Anwendung. Die Urkunde unterliegt...