Rn 44

Die Erfüllung der in § 139 normierten Pflicht des Gerichts zur Aufklärung und zu Hinweisen führt solange nicht zu einer Besorgnis der Befangenheit, wie sich der Richter in den Grenzen dieser Norm sowie in deren Konkretisierungen in §§ 136 III, 273 II, 278 II 2, 279 III bewegt, selbst wenn dadurch die Erfolgsaussichten einer Partei verringert werden (BVerfGE 42, 88, 90 = NJW 76, 1391 [BVerfG 24.03.1976 - 2 BvR 804/75]; Hamm Beschl v 29.3.18 – 1 W 12/18, juris). Dies gilt umso mehr, als durch die Novellierung des Gesetzes (Art 2 ZPO-RG v 27.7.01 – BGBl I 1887) nicht nur die Pflicht des Richters zur Sachaufklärung durch Auflagen und Hinweise deutlich erhöht worden ist, sondern ihm darüber hinaus durch § 278 II auch auferlegt ist, schon frühzeitig auf eine gütliche Beilegung des Rechtsstreits hinzuwirken (Brandbg Beschl v 30.1.13 – 1 W 31/12 – OS 2, Rz 17 – juris). Die Entscheidungen zur Ablehnung des Richters aufgrund der materiellen Prozessleitung, die vor der Novellierung ergangen sind, sind deshalb nur begrenzt zu verwerten (Zö/Vollkommer § 42 Rz 26).

 

Rn 45

Die Erfüllung dieser Pflichten setzt ein Rechtsgespräch oder einen entspr Beschl voraus, in welchem das Gericht den Parteien umfassend den Sach- und Streitstand aus seiner Sicht darzulegen hat. Die in diesem Zusammenhang an die Parteien gerichteten Fragen, Hinweise, Empfehlungen, Belehrungen und sonstigen Hilfestellungen begründen die Besorgnis der Befangenheit nicht, soweit sie ohne überspitzende Verkürzung und Vereinfachung des Sachvortrags (Braunschw ZinsO 12, 899) hinreichend sachgerecht sowie distanziert sind und keine endg Festlegung des Gerichts erkennen lassen (allgM). Eine Festlegung ist dabei nur dann anzunehmen, wenn das Gericht deutlich macht, neuen Argumenten nicht zugänglich zu sein. Es bedarf keiner auf ›Vorläufigkeit‹ hinweisenden Formulierungen, um die Zugänglichkeit deutlich zu machen (München MDR 04, 52). Der Richter setzt sich nicht der Besorgnis der Befangenheit aus, wenn er auf prozessuale Einreden, wie mangelnde Prozesskostensicherheit gem § 110 I, 269 VI oder sonstige Prozesshindernisse, wie die der Unzuständigkeit, hinweist. Das gebietet seine prozessuale Fürsorgepflicht und verschafft keiner der Parteien einen ungerechtfertigten Vorteil. Wg der durch § 139 I 2 aE normierten Pflicht kann ferner ein Ablehnungsgrund nicht darin gesehen werden, dass der Richter Hilfestellung bei der Fassung der Anträge gibt (Köln NJW-RR 93, 1277).

 

Rn 46

Eine andere Frage ist, wie weit diese Pflicht geht. Generell muss sie iRd prozessualen Begehrens einer Partei liegen. Auch ist es gerechtfertigt, eine Umstellung der Anträge bei neuen Prozesssituationen anzuregen (allgM). Zweifelhaft ist, ob dieses auch für die Stellung völlig neuer Anträge gilt (BGHZ 165, 223, 226 = NJW 06, 695) oder für ›Gegenangriffe‹ wie Widerklage und Anschlussberufung (ja: Rostock NJW-RR 02, 576 [OLG Rostock 21.07.2000 - 3 U 94/99]; nein: Stuttg MDR 00, 50 [OLG Stuttgart 12.02.1999 - 7 U 194/98]), da dadurch über das prozessuale Begehren, Zurückweisung eines Angriffs, hinausgegangen wird. Durch dieses Überschreiten wird es als Ablehnungsgrund angesehen, wenn ein Richter zur ›Flucht in die Säumnis‹ rät (München NJW 94, 69 [OVG Hamburg 07.09.1993 - Bs III 333/93]; MüKoZPO/Stackmann § 42 Rz 60; Musielak/Voit/Heinrich § 42 Rz 12). Dieser Meinung kann nicht uneingeschränkt gefolgt werden. Zwar trägt die Begründung der Gegenmeinung, der Richter dürfe allgemein bekannte Gegenstrategien empfehlen (Zö/Vollkommer § 42 Rz 26), diese nicht. Es ist nicht dessen Aufgabe, prozessuale Nachteile (§ 296) einer Partei zu Lasten der anderen zu verhindern. Damit verletzt er seine Neutralitätspflicht. Es kann indes eine Besorgnis der Befangenheit nicht rechtfertigen, einer Naturalpartei, die erkennbar die Hinweise auf die Pflicht zur schriftsätzlichen Vorbereitung übersehen oder nicht verstanden hat, den Rat zu erteilen, keinen Antrag zu stellen. Die darin zu Tage tretende Herstellung der ›materiellen Waffengleichheit‹ ist keine Parteilichkeit (Zö/Vollkommer § 42 Rz 26). Teilw wird ohnehin einschr ein Ablehnungsrecht bei entspr richterlichen Hilfen nur angenommen, wenn sie bei anwaltlich vertretenen Parteien erfolgen (BayObLG NJW 99, 1875 [AG Emmerich 14.01.1999 - 5 F 309/98]; KG NJW-RR 02, 1732; Musielak/Voit/Heinrich § 42 Rz 12; wohl auch Zö/Vollkommer § 42 Rz 27 aE; wenn dort auf ›Waffengleichheit‹ hingewiesen wird).

 

Rn 47

Hinweise auf die Erfolgsaussichten und damit verknüpfte prozessuale Anregungen zu Klagerücknahme, Anerkenntnis oder Rücknahme des Rechtsmittels berühren die Unbefangenheit des Richters nicht (allgM), weil damit nicht in die Dispositionsfreiheit der Partei eingegriffen wird. Das gilt ferner für die telefonische Anregung zu einem Vergleich (Bremen NJW-RR 13, 573 [OLG Bremen 19.11.2012 - 1 U 35/12]). Unschädlich ist es dabei auch, wenn auf eine gesetzlich vorgesehene Sanktion des Missbrauchs von Eilanträgen hingewiesen wird (BVerfG Beschl v 19.8.11 – 2 BvE 3/11 – Rz 2 – juris). ...

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