Gesetzestext
Der Gegner ist zur Vorlegung der Urkunde verpflichtet, wenn der Beweisführer nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts die Herausgabe oder die Vorlegung der Urkunde verlangen kann.
A. Pflicht zur Urkundenvorlage im Prozess.
I. Prozessuale Bedeutung.
Rn 1
Die Pflicht zur Urkundenvorlage im Prozess ist neben der Verfügungsgewalt des Beweisgegners über die Urkunde (s § 421 Rn 4) Voraussetzung für den Erlass der Vorlageanordnung durch das Gericht (MüKoZPO/Schreiber § 422 Rz 1). Gemeint ist die Vorlegungsanordnung nach Antrag des Beweisführers gem § 425, nicht die Vorlegungsanordnung vAw gem § 142 (s § 420 Rn 2). Eine prozessuale Vorlegungspflicht des Beweisgegners ergibt sich zum einen dann, wenn der Beweisgegner selbst im Prozess auf eine in seinem Gewahrsam befindliche Urkunde Bezug genommen hat (§ 423). Diese Vorlegungspflicht besteht unabhängig davon, ob der Beweisgegner materiell-rechtlich zur Vorlegung verpflichtet wäre. Allein aus den Grundsätzen der sekundären Behauptungslast kann eine Vorlegungspflicht nicht abgeleitet werden (BGH BeckRS 22, 9473 Rz 13). Gemäß § 422 unterliegt der Beweisgegner zum anderen einer prozessualen Vorlegungspflicht, wenn der Beweisführer gegen ihn einen materiell-rechtlichen Herausgabe-, Rechnungslegungs- oder Vorlegungsanspruch hat (§ 422). Hier knüpft also das Prozessrecht an das materielle Recht an. Die materiell-rechtliche und die prozessuale Vorlegungspflicht müssen dabei voneinander unterschieden werden. Sie können und werden häufig, insb im Hinblick auf den Vorlegungsort, inhaltlich unterschiedlich ausgestaltet sein (St/J/Berger § 422 Rz 7; Wieczorek/Schütze/Ahrens § 422 Rz 2). Kommt der Beweisgegner seiner prozessualen Vorlegungspflicht nicht nach, muss er Beweisnachteile befürchten (s § 427). Von der Vorlage nach § 422, die den materiell-rechtlichen Auskunfts- oder Herausgabeanspruch des Beweisführers voraussetzt, ist die Vorlageanordnung nach § 142 zu unterscheiden; Letztere setzt eben keinen entsprechenden Anspruch voraus (BGH MDR 19, 825 [BGH 26.03.2019 - VI ZR 163/17]).
Rn 2
Die innerprozessuale Editionspflicht nach § 422 führt im Ergebnis zu einer Sperrwirkung für eine gesonderte parallele Klage auf Herausgabe oder Vorlegung der Urkunde vor dem Prozessgericht. Mit der Anhängigkeit des Prozesses, in dem die Urkunde erheblich ist, fehlt dem Beweisführer regelmäßig das Rechtsschutzinteresse für eine gesonderte (Wider-)Klage (Frankf MDR 80, 228; MüKoZPO/Schreiber § 421 Rz 1; St/J/Berger § 422 Rz 1; krit Wieczorek/Schütze/Ahrens § 421 Rz 15, der das innerprozessuale Editionsverfahren jedoch ebenfalls als vorrangig ansieht, wenn lediglich ein Beweiszweck für das laufende Verfahren angegeben wird).
II. Anforderungen an den materiellen Anspruch auf Urkundenvorlage.
1. Rechtsgrund, Inhalt, Durchsetzbarkeit.
Rn 3
Der materiell-rechtliche Anspruch, aus dem sich die Vorlegungspflicht ergibt, muss ein zivilrechtlicher Anspruch sein. Öffentlich-rechtliche Ansprüche gegen Behörden oder Gerichte (insb Auskunfts- und Einsichtnahmerechte) werden von § 422 nicht erfasst. Die Vorschrift kann allerdings entsprechend herangezogen werden, wenn der Beweisgegner gerade ein Träger öffentlicher Gewalt ist und der Herausgabe- oder Vorlegungsanspruch sich aus dem öffentlichen Recht ergibt (MüKoZPO/Schreiber § 422 Rz 2; Wieczorek/Schütze/Ahrens § 422 Rz 3).
Rn 4
Materiell-rechtliche Herausgabe- oder Vorlegungsansprüche können ihre Grundlage in Verträgen (Haupt- oder Nebenpflicht) oder in gesetzlichen Schuldverhältnissen (GoA, Delikt, ungerechtfertigte Bereicherung) haben. Möglich ist auch eine isolierte Vereinbarung der Herausgabe- oder Vorlegungspflicht nach § 311 BGB (RGZ 151, 203, 208; MüKoZPO/Schreiber § 422 Rz 6; Wieczorek/Schütze/Ahrens § 422 Rz 6). Der materiell-rechtliche Anspruch, aus dem die prozessuale Vorlegungspflicht abgeleitet wird, muss inhaltlich umfassen, dass der Verpflichtete die Urkunde dem Prozessgericht (s aber § 434) zum Zweck der Einsichtnahme vorzulegen hat (MüKoZPO/Schreiber § 422 Rz 4). Es spielt keine Rolle, ob die Urkunde als Sache herauszugeben bzw vorzulegen ist (vgl §§ 809, 867, 1005 BGB) oder ob dem Beweisführer ein Anspruch auf Einsichtnahme zusteht (vgl § 810 BGB), aus dem sich ergibt, dass die Urkunde wegen ihres rechtsgeschäftlichen Gehalts vorzulegen ist (Wieczorek/Schütze/Ahrens § 422 Rz 5, 7). Die prozessuale Vorlegungspflicht kann ebenfalls auf einen materiellen Rechnungslegungsanspruch gestützt werden, soweit der Anspruch die Pflicht zur Vorlage von Belegen (vgl § 259 BGB) erfasst (Wieczorek/Schütze/Ahrens § 422 Rz 8; MüKoZPO/Schreiber § 422 Rz 2; St/J/Berger § 422 Rz 10).
Rn 5
Die Anordnung der Urkundenvorlage nach Maßgabe des § 422 setzt voraus, dass dem materiell-rechtlichen Herausgabe- oder Vorlegungsanspruch keine Einwendungen oder Einreden entgegenstehen (Wieczorek/Schütze/Ahrens § 422 Rz 11; MüKoZPO/Schreiber § 422 Rz 3). Zurückbehaltungsrechte stehen der prozessualen Vorlegungspflicht nicht entgegen, weil sie den materiell-rechtlichen Anspruch selbst unberührt lassen (Wieczorek/Schütze/Ahrens § 422 Rz 11). In Kartellschadensersatzprozessen sind die Einschränkungen nach § 89d IV GWB zu beachten; die Vorschrift stellt s...