Gesetzestext
Ist eine Urkunde von einer Partei in der Absicht, ihre Benutzung dem Gegner zu entziehen, beseitigt oder zur Benutzung untauglich gemacht, so können die Behauptungen des Gegners über die Beschaffenheit und den Inhalt der Urkunde als bewiesen angesehen werden.
A. Bedeutung der Vorschrift.
Rn 1
§ 444 enthält einen gesetzlich geregelten Fall der Beweisvereitelung. Der hier niedergelegte allgemeine Rechtsgedanke kann auf andere Fälle der Beweisvereitelung erstreckt werden, für die es nicht bereits eine gesetzliche Regelung gibt. Vereitelt oder erschwert eine Partei der anderen arglistig die Benutzung eines Beweismittels, so führt dies zu Beweiserleichterungen (s allg BGH NJW 09, 360, 361 f; § 286 Rn 99 ff; iE verneint BGH NJW 19, 3722, 3724 [BGH 19.09.2019 - I ZR 64/18] mwN). Das Gericht kann in freier Beweiswürdigung auf die Wahrheit des gegnerischen Vorbringens schließen, hier also die Behauptungen des Gegners über die Beschaffenheit und den Inhalt der Urkunde als erwiesen ansehen.
B. Voraussetzungen.
I. Tathandlung.
Rn 2
Tathandlung des § 444 ist die Beseitigung der Urkunde als Beweismittel. Eine bloße Erschwerung der Beweisführung oder das Unterlassen einer urkundlichen Dokumentation wird von § 444 nicht erfasst (Wieczorek/Schütze/Ahrens § 444 Rz 2). Eine Beweisvereitelung scheidet auch dann aus, wenn die beweisbelastete Partei den Beweis selbst hätte sichern können und somit durch ihr eigenes Verhalten in Beweisnot geraten ist (Musielak/Voit/Huber § 444 Rz 2; s.a. BSG NJW 94, 1303 [BSG 10.08.1993 - 9/9a RV 10/92]).
Rn 3
Zu welchem Zeitpunkt die Urkunde beseitigt wurde, spielt für die Anwendung des § 444 keine Rolle. Auch ein vorprozessuales Verhalten kann eine Beweisvereitelung darstellen (Wieczorek/Schütze/Ahrens § 444 Rz 2; MüKoZPO/Schreiber § 444 Rz 4).
Rn 4
Die Partei, die die Urkunde beseitigt oder zur Benutzung untauglich gemacht hat, muss gem §§ 422, 423, 432 zur Vorlegung der Urkunde verpflichtet gewesen sein (Musielak/Voit/Huber § 444 Rz 2; MüKoZPO/Schreiber § 444 Rz 2). Nur wenn eine Vorlegungspflicht bestand, hätte der Beweisführer die Urkunde nämlich zu Beweiszwecken benutzen können. Da die Vorlegungspflicht entscheidend ist, kann der Tatbestand der Beweisvereitelung auch dann erfüllt sein, wenn der Beweisgegner Eigentümer der Urkunde und als solcher zur Vernichtung der Urkunde berechtigt ist (St/J/Berger § 444 Rz 1; MüKoZPO/Schreiber § 444 Rz 2; Anders/Gehle/Gehle ZPO § 444 Rz 4).
Rn 5
§ 444 setzt nicht voraus, dass der Beweisgegner die Urkunde eigenhändig beseitigt hat. Der Beweisgegner muss sich das Verhalten eines Dritten zurechnen lassen, wenn der Dritte auf Anordnung oder im Einverständnis mit der Partei die Urkunde beseitigt (RGZ 101, 197, 198; MüKoZPO/Schreiber § 444 Rz 3; Wieczorek/Schütze/Ahrens § 444 Rz 2). Ebenfalls zugerechnet werden Handlungen des Rechtsvorgängers der Partei sowie im Prozess des Insolvenzverwalters das Verhalten des Schuldners (RGZ 101, 197, 198; Wieczorek/Schütze/Ahrens § 444 Rz 2).
II. Beweisvereitelungsabsicht.
Rn 6
Die Rspr sieht allg auch fahrlässige Handlungen, mit denen Beweismittel vernichtet oder vorenthalten werden, als schuldhafte Beweisvereitelung an (BGH NJW 19, 3722, 3724 [BGH 19.09.2019 - I ZR 64/18] mwN; NJW 04, 222 [BGH 23.09.2003 - XI ZR 380/00]; NJW 86, 59, 60 [BGH 15.11.1984 - IX ZR 157/83]). § 444 setzt jedoch im Wortlaut Beweisvereitelungsabsicht des Beweisgegners voraus. Dem Beweisgegner muss deshalb sowohl im Hinblick auf die Beseitigung der Urkunde als Beweisobjekt als auch auf die Beseitigung ihrer Beweisfunktion vorsätzliches Verhalten vorgeworfen werden können (Wieczorek/Schütze/Ahrens § 444 Rz 4; MüKoZPO/Schreiber § 444 Rz 2; zum Verschulden in sonstigen Fällen der Beweisvereitelung s § 286 Rn 99; zum doppelten Schuldvorwurf BGH NJW 2004, 222). Der BGH hat eine vorsätzliche Beweisvereitelung des Gegners angenommen, der seine Unterschrift bewusst in einer so großen Vielfalt und Variationsbreite gestaltete, dass sein Fälschungseinwand mit Hilfe eines Schriftsachverständigen nicht widerlegt werden konnte (BGH NJW 04, 222 [BGH 23.09.2003 - XI ZR 380/00]).
C. Rechtsfolge.
Rn 7
Das Gericht kann die Behauptungen des Beweisführers zur Beschaffenheit und zum Inhalt der Urkunde als bewiesen ansehen. § 444 bezieht sich nur auf die formelle Beweiskraft der Urkunde (MüKoZPO/Schreiber § 444 Rz 1; Musielak/Voit/Huber § 444 Rz 3).