Rn 44
Das Gesetz nennt in Abs 4 S 1 Nr 1 drei Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist: Grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache sowie die Notwendigkeit einer Entscheidung des Berufungsgerichts zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rspr. Damit gelten hier dieselben Gründe wie für die Zulassung der Revision (§ 543 II 1) und der Rechtsbeschwerde (§ 574 II). Das beruht auf der ›Passierscheinfunktion‹ (MüKoZPO/Rimmelspacher Rz 61) der Zulassungsberufung, mit der mittelbar der Weg in die Revisionsinstanz eröffnet wird. Denn im Hinblick auf die Rechtssicherheit, soweit es um die Rechtsanwendung durch die Gerichte geht, können grundsätzliche Rechtsfragen nur höchstrichterlich geklärt werden, und nur der BGH kann Rechtsfortbildung betreiben und die Einheitlichkeit der Rspr sichern.
1. Grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache.
Rn 45
Eine Rechtssache hat zum einen dann grundsätzliche Bedeutung, wenn sie eine entscheidungserhebliche, klärungsbedürftige und klärungsfähige Rechtsfrage aufwirft, die sich in einer unbestimmten Vielzahl von Fällen stellen kann und deshalb das abstrakte Interesse der Allgemeinheit an der einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts berührt (BGHZ 154, 288, 291). Zum anderen ist eine Rechtssache auch dann von grundsätzlicher Bedeutung, wenn das tatsächliche oder wirtschaftliche Gewicht des Rechtsstreits nicht nur für die Parteien, sondern auch für die Allgemeinheit eine besondere Bedeutung hat (BGHZ 154, 288, 292). Das ist zB bei Musterprozessen und solchen Verfahren der Fall, in denen es um die Auslegung von allgemeinen Geschäftsbedingungen, anderen typischen Vertragsklauseln oder Tarifen geht. Dagegen scheidet die Zulassung der Berufung wegen grds Bedeutung bei einer nur auf den konkreten Fall bezogenen Rechtsanwendung und bei Entscheidungen aus, deren Ergebnis auf einer Beweiswürdigung beruht.
Rn 46
Entscheidungserheblich ist die Rechtsfrage, wenn das erstinstanzliche Urt auf ihrer Beantwortung in der einen oder anderen Richtung beruht. Klärungsbedürftigkeit liegt vor, wenn die Beantwortung der Rechtsfrage zweifelhaft ist, weil dazu unterschiedliche Auffassungen vertreten werden und eine höchstrichterliche Entscheidung noch nicht ergangen ist (s aber BVerfG NJW-RR 09, 1026 [BVerfG 25.02.2009 - 1 BvR 3598/08]: keine Grundsatzbedeutung trotz fehlender BGH-Entscheidung, wenn das Berufungsgericht einer weit verbreiteten Auffassung folgt) oder dieser in der Literatur und von den Instanzgerichten aufgrund neuer Argumente nicht gefolgt wird, oder weil die Frage bisher in der Rspr und Lit noch nicht erörtert worden ist. Klärungsfähig durch das Berufungsgericht ist eine Rechtsfrage nur dann nicht, wenn sie die Entscheidung über die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes betrifft (vgl Art 80 I GG).
2. Fortbildung des Rechts.
Rn 47
Dieser Zulassungsgrund setzt voraus, dass der Einzelfall Veranlassung gibt, Leitsätze für die Auslegung von Gesetzesbestimmungen des materiellen oder formellen Rechts aufzustellen oder Gesetzeslücken auszufüllen, wenn es für die rechtliche Beurteilung typischer oder verallgemeinerungsfähiger Lebenssachverhalte an einer richtungsweisenden Orientierungshilfe ganz oder tw fehlt (BGHZ 154, 288, 292). Das ist insb bei Entscheidungen zu neuen Gesetzesbestimmungen und in Rechtsgebieten der Fall, die einer starken Dynamik im Hinblick auf die tatsächlichen Verhältnisse unterliegen. Danach stellt sich die Rechtsfortbildung als ein Fall der grundsätzlichen Bedeutung (Rn 45 f) dar.
3. Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung.
Rn 48
Dieser Zulassungsgrund liegt vor, wenn das erstinstanzliche Gericht von der Entscheidung eines höherrangigen Gerichts, wenn es die nicht gibt, von der Entscheidung eines gleichrangigen Gerichts abweicht und sein Urt darauf beruht. Die Abweichung muss darin bestehen, dass das Gericht einen Rechtssatz aufgestellt hat, der sich mit einem in der Vergleichsentscheidung aufgestellten und diese tragenden Rechtssatz nicht deckt (BGHZ 154, 288, 292 f). Das muss nicht bewusst, sondern kann auch unbewusst geschehen sein.
Rn 49
Die von der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zur Zulassung der Revision durch den BGH zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung bei einer fehlerhaften Rechtsanwendung durch das Berufungsgericht (s die Erl zu § 543) finden hier keine Anwendung. Denn es geht um die Zulassung der Berufung durch das erstinstanzliche Gericht, das seine Entscheidung für rechtsfehlerfrei hält, und nicht um die Zulassung durch das Rechtsmittelgericht, das darüber aufgrund einer rechtlichen Überprüfung des erstinstanzlichen Urteils entscheidet.