I. Voraussetzungen.
Rn 18
Eine Vorlage durch den Einzelrichter an das Kollegium hat nach § 526 II zu erfolgen, wenn sich entweder nach Auffassung des Einzelrichters aus einer wesentlichen Änderung der Prozesslage besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten bzw die grundsätzliche Bedeutung der Sache ergeben (Nr 1) oder die Parteien dies übereinstimmend beantragen (Nr 2). Es genügt nicht, dass der Einzelrichter in diesen Fällen die Rechtsauffassung des Spruchkörpers erfragt und dieser in seiner Entscheidung folgt (BGH MDR 04, 43). Durch Nichtbeachtung der Vorlagepflicht entzieht der Einzelrichter die erneute Beurteilung der grundsätzlichen Bedeutung der Sache dem Kollegium als dem gesetzlich zuständigen Richter (BGHZ 235, 163).
Rn 19
Eine Änderung der Prozesslage ist eingetreten, wenn sich die Umstände, die der Entscheidung des Kollegiums bei der Übertragungsentscheidung zugrunde lagen, nachträglich geändert haben, sei es aus neuem Vorbringen der Parteien, sei es aus neu geltend gemachten Ansprüchen (Klageänderung, Aufrechnung, Widerklage), aus Beweisergebnissen oder aus Änderungen des Gesetzes oder der obergerichtlichen Rspr. Wesentlich ist die Änderung, wenn sie – ihr Vorliegen bei der Übertragungsentscheidung unterstellt – einer Übertragung hätte entgegenstehen können. Eine wesentliche Änderung der Prozesslage kann auch durch einen Hinweis nach § 139 Abs 2 herbeigeführt werden, wenn der Einzelrichter auf bestimmte, bislang von den Parteien nicht erkannte rechtliche Gesichtspunkte hinweist oder zu erkennen gibt, dass er entscheidungserhebliche Sach- oder Rechtsfragen anders beurteilen will als beide Parteien (BGH MDR 21, 189; BGHZ 105, 270). Eine nachträgliche grundsätzliche Bedeutung kann anzunehmen sein, wenn der Einzelrichter in einer später aufgetauchten Rechtsfrage von der Rspr des Spruchkörpers oder eines anderen Einzelrichters des Spruchkörpers abweichen will (sog ›Innendivergenz‹; BGH MDR 23, 317 [BGH 10.11.2022 - III ZR 13/22]) oder es hierzu noch keine Spruchkörperentscheidung gibt.
Rn 20
Zur Vorlage verpflichtet stets auch der übereinstimmende Antrag beider Parteien (Nr 2). Bei Streitgenossen ist der Antrag von allen Beteiligten zu stellen (MüKoZPO/Rimmelspacher Rz 25). Er führt nicht zu einer Übernahme durch den Spruchkörper, sondern nur zur Prüfung der Übernahmevoraussetzungen. Sinn macht der Antrag – auch wenn er nicht begründet werden muss – deswegen nur, wenn die Parteien Umstände vortragen können, die Zweifel am Vorliegen der Übertragungsvoraussetzungen begründen, die also besondere Schwierigkeiten oder die grundsätzliche Bedeutung der Sache aufzeigen.
II. Übernahmeentscheidung.
Rn 21
Der Einzelrichter ist nicht befugt, den Rechtsstreit an das Kollegium zurückzuübertragen. Er hat die Sache dem Kollegium vorlegen, das nach Anhörung der Parteien dann darüber entscheidet, ob es sie wieder übernimmt. Eine mündliche Verhandlung ist möglich, aber nicht erforderlich (§ 128 IV). Das Kollegium entscheidet über die Rücknahme der Sache in voller Besetzung unter Einschluss des bisher befassten Einzelrichters. Liegen die Voraussetzungen des § 526 II 1 vor, so muss eine Übernahme erfolgen (Satz 2), anders als bei der Übertragung auf den Einzelrichter besteht hier ein Ermessen nicht.
Rn 22
Die Entscheidung über die Übernahme ergeht – unabhängig davon, ob sie erfolgt oder nicht – in Form eines Beschlusses (§ 526 II 3), der mangels Anfechtbarkeit (§ 526 III) einer Begründung nicht bedarf.
Rn 23
Mit der Übernahme wird das Kollegium wieder gesetzlicher Richter, für das Verfahren und die zu treffenden Entscheidungen zuständig. Die Übernahme erfolgt in dem Stadium, in dem sich das Verfahren vor dem Einzelrichter befand. Alle zuvor vom und vor dem Einzelrichter vorgenommenen Prozesshandlungen behalten ihre Wirksamkeit. Entscheidungen gelten fort, Urteile entfalten auch für das Kollegium Bindungswirkung nach § 318. Dies gilt an sich auch für eine Beweisaufnahme, doch kann der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (§ 355) eine Wiederholung erfordern, wenn nicht anzunehmen ist, dass das Kollegium das Beweisergebnis des Einzelrichters auch ohne unmittelbaren Eindruck von dem Verlauf der Beweisaufnahme sachgemäß zu würdigen vermag (§ 527 II 2). Eine erneute Übertragung auf den Einzelrichter ist nach § 526 II 4 ausgeschlossen, auch aufgrund einer Gegenvorstellung nicht möglich, wenn die Rücknahme fehlerhaft erfolgt ist. Dieses Verbot gilt nicht für eine Zuweisung des Rechtsstreits zur Vorbereitung der Entscheidung nach § 527, die auch nach einer Übernahme möglich bleibt.