Rn 11
Die Bindungswirkung findet ihre Grenzen dort, wo Anlass zu der Vermutung besteht, dass der festgestellte Sachverhalt ursächlich für die Fehlerhaftigkeit des angefochtenen Urteils ist. In diesem Fall ist eine Neufeststellung erforderlich, um zu einer für die sachlich richtige Entscheidung geeigneten Tatsachengrundlage zu kommen. Anders als in der Revisionsinstanz, wo eine Bindung an vorinstanzliche Feststellungen erst entfällt, wenn sie fehlerhaft zustande gekommen sind (§ 559 II), entfällt die Bindungswirkung für das Berufungsgericht bereits, wenn bloße Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit bestehen.
aa) Gebotensein erneuter Feststellung aufgrund konkreter Anhaltspunkte für Zweifel.
Rn 12
Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der Feststellungen bestehen, wenn aus der Sicht des Berufungsgerichts eine gewisse (nicht notwendig überwiegende) Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass eine erneute Feststellung zu einem anderen Ergebnis führen wird (BGH NJW-RR 19, 1343 [BGH 04.09.2019 - VII ZR 69/17]; NJW 14, 1018 [BGH 05.12.2013 - VII ZB 15/12]). Diese Zweifel müssen nicht ›erheblich‹ sein, dürfen aber nicht bloß subjektiv aus der Sicht des Berufungsführers vorliegen, sondern müssen objektiv und rational für das Gericht nachvollziehbar und nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen sein (BGH NJW 04, 2828 und 2828; 03, 3480; weitergehend Jena BauR 11, 1862: ›Zweifel müssen sich aufdrängen‹).
Rn 13
Die Zweifel sind an einem konkreten (Jena BauR 11, 1862) Anhaltspunkt festzumachen, an einem rechtlichen oder tatsächlichen Einwand gegen die Feststellung. Anhaltspunkte können sich zB aus dem erstinstanzlichen Vortrag der Parteien, dem Ablauf des erstinstanzlichen Verfahrens, dem Inhalt des angefochtenen Urteils oder aus neuem zweitinstanzlichen Vortrag der Parteien ergeben. In Betracht kommen (gerügte: Abs 2; Gehrlein MDR 18, 443 und MDR 03, 421, 428) Fehler im Verfahren oder bei der Beweisaufnahme (BGH VersR 14, 365; BGH MDR 05, 1308; zu unerheblichen Fällen unerledigter Beweisanträge Laumen MDR 20, 193; Gehrlein MDR 18, 443) oder Beweiswürdigung (BVerfG NJW 03, 2524 [BVerfG 12.06.2003 - 1 BvR 2285/02]; BGH NJW 05, 1583 [BGH 09.03.2005 - VIII ZR 266/03]; 04, 1876 [BGH 12.03.2004 - V ZR 257/03]; NJW-RR 04, 425, 426 [BGH 14.10.2003 - VI ZR 425/02]; auch die Nichtberücksichtigung von Beweiseinreden: BGH NJW-RR 18, 651 [BGH 21.03.2018 - VII ZR 170/17]; Koblenz ZEV 16, 602), die unzureichende Befragung eines Zeugen (BGH MDR 05, 1308 [BGH 10.05.2005 - VI ZR 245/04]), die Widersprüchlichkeit oder Unvollständigkeit eines Gutachtens (BGH MDR 06, 531), die erkennbar fehlende Sachkunde des Gutachters (Berlin KGR 09, 900; Celle BauR 17, 769), das Zugrundelegen eines falschen Beweismaßes (§ 286 statt § 287: BGH VersR 09, 1213), die Nichtanhörung eines Sachverständigen (BVerfG NJW 12, 1346; BGH MDR 09, 1184), die Nichtwiedergabe des Ergebnisses eines Augenscheins (Hamm NJW-RR 03, 1006 [BGH 19.02.2003 - VIII ZR 205/02]), ein Verstoß gegen die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (BGH NJW 00, 2024 [BGH 15.03.2000 - VIII ZR 31/99]) das Übergehen von Parteivortrag (BGH BGHReport 07, 28, 30 [BGH 27.09.2006 - VIII ZR 19/04]; Stackmann NJW 13, 2929), die Berücksichtigung nicht vorgetragener Tatsachen, die grundlegende Änderung des Sachverhalts durch zulässigen neuen Vortrag (BGH NJW 06, 152, 153 [BGH 18.10.2005 - VI ZR 270/04]; 04, 2152, 2153 [BGH 19.03.2004 - V ZR 104/03]; 2825, 2827 [BGH 08.06.2004 - VI ZR 199/03]), die fehlerhafte Rechtsanwendung (BGH NJW 04, 2828 [BGH 08.06.2004 - VI ZR 230/03]). Anhaltspunkte für Zweifel können sich auch aus der Möglichkeit unterschiedlicher Wertung ergeben, insb daraus, dass das Berufungsgericht der Beweiswürdigung des Erstgerichts nicht folgt; in diesem Fall ist eine Wiederholung der Beweisaufnahme (oder einer Parteianhörung: BGH NJW 18, 249; VersR 18, 1023) erforderlich (BGH NJW 23, 3496; NJW-RR 21, 76; MDR 20, 237 und 999; FamRZ 20, 527; TranspR 18, 312; NJW-RR 17, 21; MDR 17, 231). Das gilt, wenn das Berufungsgericht die Glaubwürdigkeit eines Zeugen anders beurteilen will als die Vorinstanz (BGH NJW-RR 21, 718 [BGH 27.01.2021 - XII ZR 21/20]; 19, 1343 [BGH 04.09.2019 - VII ZR 69/17]; Rn 17), die Aussage inhaltlich anders versteht oder gewichtet (BGH FamRZ 06, 946) oder die Aussage für ergänzungs- bzw präzisierungsbedürftig hält (BGH BauR 14, 141; NJW-RR 93, 510). Schließlich können sich Anhaltspunkte für Zweifel auch aus zu berücksichtigenden (§ 531 II) neuen Angriffs- und Verteidigungsmittel ergeben (BGH NJW 04, 1876 [BGH 12.03.2004 - V ZR 257/03] und 2825 [BGH 08.06.2004 - VI ZR 199/03]), so etwa, wenn das erstinstanzliche Gericht vorgetragene Tatsachen für unerheblich gehalten hat, sie sich aber im Rahmen des Prozessstoffs zweiter Instanz als erheblich erweisen (§ 533 Rn 14; BGH NJW 07, 2414 [BGH 27.09.2006 - VIII ZR 19/04]).
Rn 14
Ob und ggf welche Anhaltspunkte für Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der Tatsachenfeststellungen bestehen, hat das Berufungsgericht vAw zu prüfen. Mit von der Berufung vorgetragenen Anhaltspunkten muss das Berufung...