Rn 19
Überprüft wird das Urt auch in rechtlicher Hinsicht, sowohl auf mögliche materiell-rechtliche als auch auf mögliche verfahrensrechtliche Mängel.
1. Prüfung von Verfahrensfragen.
Rn 20
Den Ablauf des erstinstanzlichen Verfahrens muss das Berufungsgericht nicht in jedem Fall in vollem Umfang prüfen. Entsprechende Fehler werden grds nur auf eine Rüge der Parteien hin berücksichtigt (Satz 1). Nur soweit nicht bloß ein Mangel des Verfahrens, sondern ein Mangel des Urteils vorliegt, erfolgt ausnahmsweise eine Prüfung vAw (S 2). Dabei entspricht die Abgrenzung zwischen zu rügenden verzichtbaren und vAw zu prüfenden unverzichtbaren Mängeln der in § 295.
a) Rügeabhängige Mängel (S 1).
Rn 21
Nicht vAw zu berücksichtigen sind Verfahrensvorschriften, auf deren Befolgung die Parteien verzichten können (§ 534 Rn 3). Hierher gehören alle den äußeren Prozessablauf betreffenden Normen, zB §§ 253, 159 f, 166, 271, 274, 283, 311 ff, 355 ff, 377. Nicht verzichtbar sind Normen, die den Inhalt von Partei- oder Gerichtshandlungen betreffen, insb die vAw zu berücksichtigenden Prozessvoraussetzungen (dazu § 532), Vorschriften, die die Öffentlichkeit der Verhandlung oder das rechtliche Gehör gewähren sollen. Unerheblich ist, ob die Verletzung der Norm durch das Gericht oder durch den Dritten erfolgte.
Rn 22
Eine Rüge nach § 529 II 1 wird regelmäßig vom Berufungskläger erhoben. Sie darf sich nicht in der pauschalen Beanstandung des erstinstanzlichen Verfahrens oder einer Bezugnahme auf das dortige Vorbringen erschöpfen, sondern muss das inkriminierte Verhalten konkret erkennen lassen. Eine Benennung der verletzten Norm ist nicht erforderlich. Genügen kann bereits die Bezeichnung der konkreten Anhaltspunkte, die Zweifel an der Tatsachenfeststellung begründen (§ 520 III Nr 3). Die Rüge muss in der Berufungsbegründung enthalten sein. Wird die Rüge ausnahmsweise vom Berufungsbeklagten erhoben, kann dies in der Berufungserwiderung oder in der Anschlussberufung geschehen. Eine bloße Erwiderung auf die Rüge des Gegners ist in den Grenzen der §§ 525, 296 bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung möglich.
Rn 23
In zweiter Instanz sind neue verzichtbare Verfahrensrügen nach § 529 II 1 ausgeschlossen. Sie unterliegen der Beschränkung des § 530, wobei es für die Frage, ob die Zulassung neuen Vorbringens die Erledigung des Rechtsstreits verzögern würde, auf den Zeitpunkt ankommt, in dem ohne das neue Vorbringen der Zurückweisungsbeschluss (nicht etwa ein späteres Berufungsurteil) ergehen könnte (München WM 15, 2139).
b) Rügeunabhängige Mängel (S 2).
Rn 24
Auch ohne Rüge zu prüfen sind Normen, die für das Funktionieren des Rechtsstaats unerlässlich sind, die den Inhalt von Partei- oder Gerichtshandlungen betreffen, insb die vAw zu berücksichtigenden Prozessvoraussetzungen (BGH MDR 23, 51; NJW-RR 99, 381, 388 [BGH 19.11.1998 - VII ZR 371/96]; WM 98, 1832 [BGH 19.06.1998 - V ZR 356/96]), sowie Vorschriften, die den gesetzlichen Richter, die Öffentlichkeit der Verhandlung oder das rechtliche Gehör sicherstellen sollen (zB Unzulässigkeit Teil- oder Grundurteil: BGH NJW 00, 1572 [BGH 27.01.2000 - IX ZR 45/98] und 1498 [BGH 17.02.2000 - IX ZR 436/98]). Die Verletzung solcher Normen betrifft nicht nur das Verfahren, sondern das Urt unmittelbar. Insoweit erfolgt die Nachprüfung auch ohne Beschränkung durch die Berufungsgründe (Musielak/Voit/Ball Rz 24).
2. Prüfung materiell-rechtlicher Fragen (S 2).
Rn 25
Dass das angefochtene Urt auch auf mögliche materiell-rechtliche Fehler hin überprüft wird, ist eine Selbstverständlichkeit, die § 529 nicht besonders wiederholt. Die Prüfung erfolgt, weil sie Abs 2 S 2 unterfällt, rügeunabhängig vAw. Das Recht ist verletzt, wenn eine Rechtsnorm nicht oder nicht richtig angewendet worden ist (§ 546). Das ist zB der Fall, wenn eine für die erstinstanzliche Entscheidung einschlägige Norm übersehen, zu Unrecht für nicht anwendbar erklärt, ihr durch Auslegung ein unzutreffender Inhalt beigemessen oder der festgestellte Sachverhalt unzutreffend unter die maßgebliche Norm subsumiert wurde (§ 513).