I. Allgemeines.
Rn 10
Zu den Zulassungsgründen wird in der Gesetzesbegründung zum ZPO-RG ausgeführt, dass die Zulassungsvoraussetzungen der ›Fortbildung des Rechts‹ und der ›Sicherung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung‹ den Zulassungsgrund der ›grundsätzlichen Bedeutung einer Rechtssache‹ konkretisieren, ohne ihn hierauf zu beschränken. Der Gesetzgeber verleiht seiner Auffassung Ausdruck, dass mit der Erweiterung der Zulassungsgründe und dem damit verbundenen erweiterten Verständnis der ›grundsätzlichen Bedeutung einer Rechtssache‹ künftig auch Revisionen zuzulassen sein werden, denen eine Grundsatzbedeutung im herkömmlichen Sinne nicht zukomme, die aber gleichwohl eine Leitentscheidung der höchstrichterlichen Rspr erfordern. Gleiches gelte für Revisionen, die zwar eine Leitentscheidung nicht erfordern, gleichwohl aber eine Ergebniskorrektur wegen offensichtlicher Unrichtigkeit oder wegen der Verletzung eines Verfahrensgrundrechts geboten erscheinen lassen (BTDrs 14/4722, 67; zum Individualinteresse an einer Ergebniskorrektur vgl Rn 21).
Rn 11
Von den Zulassungsgründen des § 543 II (zu deren Darlegung vgl iE § 544 Rn 14 ff) kommen der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung, der Fortbildung des Rechts und der Sicherung einer einheitlichen Rspr unter dem Gesichtspunkt der Divergenz sowohl für die Zulassung durch das Berufungsgericht als auch für die Zulassung durch den BGH in Betracht. Die durch den BGH zur Sicherung einer einheitlichen Rspr bei einer fehlerhaften Rechtsanwendung durch das Berufungsgericht sowie für die Zulassung der Revision bei Verletzung von Verfahrensgrundrechten (iE Rn 15 ff) geprägten Grundsätze dürften allerdings nur für die Zulassung durch den BGH von Relevanz sein. Da das Berufungsgericht seine Entscheidung für rechtsfehlerfrei hält und davon ausgeht, die Verfahrensgrundrechte gewahrt zu haben, kommt dieser Unteraspekt der Zulassungsgründe für die Zulassungspraxis der Berufungsgerichte faktisch nicht in Betracht (so auch zur Parallelsituation in der Berufungsinstanz § 511 Rn 49).
II. Grundsätzliche Bedeutung.
Rn 12
Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache, wenn sie eine entscheidungserhebliche, klärungsbedürftige und klärungsfähige Rechtsfrage aufwirft, die sich in einer unbestimmten Vielzahl von Fällen stellen kann oder wenn andere Auswirkungen des Rechtsstreits auf die Allgemeinheit deren Interessen in besonderem Maße berühren und ein Tätigwerden des BGH erforderlich machen (BGHZ 154, 288, 291 f; BGH NJW 04, 2222, 2223). Das ist zB bei Musterprozessen und solchen Verfahren der Fall, bei denen es um die Auslegung von Allgemeinen Geschäftsbedingungen, anderen typischen Vertragsklauseln oder Tarifen geht (vgl § 511 Rn 45; Musielak/Voit/Ball § 543 Rz 6); auch das tatsächliche oder wirtschaftliche Gewicht eines Rechtsstreits kann Grundsätzlichkeit begründen, wenn der Rechtssache eine erhebliche gesamtwirtschaftliche Bedeutung zukommt (MüKoZPO/Krüger § 543 Rz 10). Die Klärungsfähigkeit der Rechtsfrage setzt die Revisibilität des anzuwendenden Rechts voraus (§ 545 I). Klärungsbedürftig kann eine Rechtsfrage auch dann sein, wenn sie vom BGH noch nicht hinreichend geklärt (BVerfG WM 16, 1434 Tz 34) oder zwar geklärt ist, jedoch entweder die Instanzgerichte dem BGH weitgehend nicht folgen oder im Schrifttum ernst zu nehmende Bedenken gegen die höchstrichterliche Rspr geäußert werden (s.a. BGH 21.9.22 – IV ZR 305/21 Rz 5 – juris). Der Fortbestand der Klärungsbedürftigkeit in diesen Fällen ist erforderlich, um der Gefahr einer Rechtserstarrung entgegenzuwirken (vgl BTDrs 14/4722, 104) und den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Justizgewährungsanspruchs zu genügen (vgl dazu BVerfG WM 11, 1117, 1118). Ist die Rechtslage höchstrichterlich abstrakt geklärt, ist der Zulassungsgrund auch in ähnlich gelagerten Sachverhaltskonstellationen nicht mehr gegeben (BGH 21.3.22 – VIa ZR 334/21 Rz 13 – juris).
III. Fortbildung des Rechts.
Rn 13
Dieser Zulassungsgrund deckt sich weitgehend mit dem der Grundsatzbedeutung (vgl Ahrens/Bornkamm Der Wettbewerbsprozess 9. Aufl, Kap 29 Rz 18; MüKo/Krüger § 543 Rz 11). Zur Fortbildung des Rechts (§ 543 II 1 Nr 2 1. Alt) ist die Zulassung der Revision geboten, wenn der Einzelfall Veranlassung gibt, Leitsätze für die Auslegung von Gesetzesbestimmungen des materiellen oder formellen Rechts aufzustellen oder Gesetzeslücken auszufüllen. Ein solcher Anlass besteht dann, wenn es für die rechtliche Beurteilung typischer oder verallgemeinerungsfähiger Lebenssachverhalte an einer richtungsweisenden Orientierungshilfe ganz oder tw fehlt (BGH NJW 03, 1943, 1945 = BGHZ 154, 288, 292; zum Revisionszulassungsgrund der Rechtsfortbildung und seiner Darlegung vgl auch Gehrlein VersR 08, 1623 f). Das Bedürfnis für eine höchstrichterliche Leitentscheidung dürfte indiziert sein, wenn technischer Fortschritt (zB Internet) oder Veränderungen rechtlicher Bezugspunkte (zB Auswirkung steuerrechtlicher Änderungen auf die Vertragsgestaltung) zur Beurteilung anstehen (vgl Zö/Feskorn § 543 Rz 12) sowie in Rechtsgebieten, die – wie etwa das Lauterkeitsrec...