Prof. Dr. Markus Gehrlein
1. Amtsprüfung durch Rechtsmittelgericht.
Rn 5
Der Prüfungspflicht unterliegt das Gericht in jeder Verfahrenslage und damit auch im Rechtsmittelzug (BGHZ 159, 94, 98 f = NJW 04, 2523 f; BGHZ 143, 122, 124 = NJW 00, 289 f; BGH NJW 00, 738; BFH/NV 2011, 1891 Rz 6; BAG 15, 269 Rz 13; KG NJW 14, 2737 [KG Berlin 17.03.2014 - 20 U 254/12]; BGH GRUR 23, 1561 [BGH 27.07.2023 - I ZB 114/17] Rz 10). Das Revisionsgericht ist hinsichtlich der Sachurteilsvoraussetzungen nicht an die Tatsachenfeststellungen der Vorinstanzen gebunden (BGHZ 31, 279, 281 f = NJW 60, 523; BGHZ 18, 98, 106 = NJW 55, 1513; BAG 15, 269 Rz 13), kann entgegen § 559 neuem Tatsachenvortrag nachgehen (BGH NJW 70, 1683 [BGH 16.06.1970 - VI ZR 98/69]; 62, 1510 [BGH 09.05.1962 - IV ZR 4/62]; BAG 15, 269 Rz 13) und sogar eine eigenständige Beweiserhebung vornehmen (Musielak/Voit/Weth Rz 4). Steht freilich die Prozessführungsbefugnis im Streit, müssen abw von den genannten Grundsätzen die Tatsachen, die eine gesetzliche oder gewillkürte Prozessstandschaft begründen, im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung der Tatsacheninstanz vorgelegen haben (BGH NJW 00, 738 f [BGH 10.11.1999 - VIII ZR 78/98]). Eine Zurückweisung neuen Vorbringens wegen Verspätung (§§ 530, 531) scheidet aus. Sofern das Revisionsgericht neues Tatsachenvorbringen berücksichtigen und eine eigenständige Beweisaufnahme durchführen darf, ist es auch berechtigt, die Sache aufzuheben und zur erforderlichen Prüfung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (BGH NJW-RR 86, 157 f [BGH 10.10.1985 - IX ZR 73/85]). Dem Berufungsgericht ist hingegen eine eigene Würdigung versagt, soweit das Revisionsgericht eine Prozessvoraussetzung einer abschließenden Prüfung zugeführt hat (BGH LM KRG § 2 Nr 2). Wird der Mangel im Rechtsmittelzug aufgedeckt, hat das Rechtsmittelgericht die Klage als unzulässig abzuweisen und nicht das Rechtsmittel als unzulässig zu verwerfen, weil andernfalls das fehlerhafte Urt der Vorinstanz erhalten bliebe und nur mit der Nichtigkeitsklage (§ 579 Nr 4) beseitigt werden könnte (BGHZ 143, 122, 126 f = NJW 00, 289 f; BGHZ 110, 294, 296 = NJW 90, 1734 f; BGHZ 40, 197, 199 = NJW 64, 203). Bleibt der Mangel unentdeckt, erlangt das der partei- oder prozessunfähigen Partei zugestellte Urt formelle Rechtskraft (BGHZ 104, 109, 110 ff = NJW 88, 2049). Dies gilt auch bei einem Rechtsmittelverzicht bzw einer Rechtsmittelrücknahme durch den unerkannt Partei- oder Prozessunfähigen bzw durch den falschen gesetzlichen Vertreter (BGHZ 104, 109, 111 = NJW 88, 2049; BVerwG NJW 64, 1819; aA Zö/Vollkommer Rz 15). Im Wiederaufnahmeverfahren (§ 579 I Nr 4) ist das Gericht nicht an die in dem Hauptverfahren ausdrücklich festgestellte Prozessfähigkeit gebunden (BGHZ 84, 24 = NJW 82, 2449). Bei fehlender Parteifähigkeit ist § 579 I Nr 4 entsprechend anwendbar (BGH JZ 59, 127 [BGH 09.12.1958 - VIII ZR 80/56]).
2. Rechtsmittelrüge der Parteien.
Rn 6
Der Streit über eine Sachurteilsvoraussetzung kann durch die beschwerte Partei (BGHZ 110, 294, 295 f = NJW 90, 1734) mit einem Rechtsmittel zur Prüfung der höheren Instanz gestellt werden. Verneint das Rechtsmittelgericht die Sachurteilsvoraussetzung, wird nicht das Rechtsmittel als unzulässig verworfen, sondern die Klage als unzulässig abgewiesen (vgl Rz 5). Ebenso ist zu verfahren, falls gegen den nicht partei- oder prozessfähigen Rechtsmittelführer ein Sachurteil ergangen ist, auch wenn er ein Sachurteil (umgekehrten Inhalts) erstrebt (BGHZ 143, 122, 127 = NJW 00, 289 f; BGHZ 110, 294, 295 = NJW 90, 1734). Steht die gesetzliche Vertretung einer Partei in Frage, ist das von ihr zur Klärung dieses Streitpunkts eingelegte Rechtsmittel stets als zulässig zu erachten. Würde die Partei dem von der Vorinstanz gerügten prozessualen Mangel begegnen, indem sie den nach dessen Ansicht zur Vertretung Befugten für sich auftreten lässt, liefe sie Gefahr, dass das Rechtsmittel, wenn das Rechtsmittelgericht eine abweichende (ihrer eigenen erstinstanzlichen entsprechende) Auffassung vertritt, als unzulässig verworfen wird. Umgekehrt muss die Partei, die an ihrer Auffassung festhält, befürchten, dass sich das Rechtsmittelgericht der Ansicht der Vorinstanz anschließt und das Rechtsmittel ebenfalls als unzulässig verwirft. Wegen dieser Konfliktsituation ist die Partei berechtigt, die Streitfrage auf der Grundlage ihrer Rechtsauffassung über die Vertretungsbefugnis dem Rechtsmittelgericht zur Entscheidung zu unterbreiten (BGHZ 111, 219, 221 f = NJW 90, 3152). Diese Grundsätze gelten nicht beim Streit über eine gewillkürte Vertretung, weil die Partei dem Mangel durch Erteilung einer ordnungsgemäßen Vollmacht für den Berufungsrechtszug abhelfen kann (BGHZ 111, 219, 222 f).