Prof. Dr. Caroline Meller-Hannich
Rn 10
Es geht um die Aufhebung einer vorgängigen Entscheidung durch rechtskräftiges Urteil. Insgesamt ist also iRv Nr 6 von drei Urteilen die Rede: Zum einen das Urt des Vorprozesses, dessen Rechtskraftdurchbrechung mit der Wiederaufnahme angestrebt wird, zum zweiten ein Urt, worauf das Urt im Vorprozess gegründet ist (›vorgängiges Urteil‹), und drittens ein rechtskräftiges Urt, das eben diese Grundlage, also das vorgängige Urt, aufhebt (BAG v 29.9.11 – 2 AZR 674/10; vgl BGH NJW 13, 2686). Ist das ›vorgängige‹ Urteil erst nach dem Urteil des Vorprozesses rechtskräftig geworden, kommt die Wiederaufnahme nicht in Betracht.
Es muss sich beim vorgängigen Urt um das Urt eines ordentlichen Gerichts (Zivil- oder Strafsachen, auch Arbeitsgerichte), eines früheren Sondergerichts oder eines Verwaltungsgerichts (auch Sozial-, Finanzgerichtsbarkeit) handeln (vgl BGHZ 89, 114, 116). Zum BVerfG als aufhebendes Gericht s Rn 12.
Analog Nr 6 ist die Restitutionsklage auch bei der Aufhebung eines Schiedsspruchs nach § 1055 (als vorgängiges Urt) eröffnet (BGH NJW-RR 08, 556 [BGH 17.01.2008 - III ZR 320/06]; Zö/Greger § 580 Rz 13). Aufgrund seines urteilsvertretenden Charakters ist auch ein aufgehobener Teilbeschluss einem vorgängigen Urt iSv Nr 6 gleichzustellen (BGH NJW-RR 07, 767 [BGH 23.11.2006 - IX ZR 141/04]). Entsprechendes gilt ferner für eine aufgehobene Entscheidung in der freiwilligen Gerichtsbarkeit und für einen Verwaltungsakt, nicht aber für amtliche Auskünfte (R/S/G § 161 Rz 21, 22 mwN; Hummel NZS 10, 139, 140, 142) oder Pfändungs- und Überweisungsbeschlüsse (LAG Rheinland-Pfalz v 23.5.16 – 2 Sa 34/16 m zust Anm Sievers, jurisPR-ArbR 41/2016 Anm 4). Analoge Anwendung findet Nr 6 auch, wenn der Arbeitgeber mit Zustimmung des Integrationsamtes einem schwerbehinderten Menschen gekündigt hat und den Kündigungsschutzprozess gewonnen hat, der Zustimmungsbeschluss später jedoch rechtskräftig aufgehoben wird (BGH NJW 81, 2023; zul ArbG Berlin ArbRAktuell 22, 656 m Anm Hermann). Auch im Fall, dass ein Verletzer eines Patents oder einer geschützten Sorte rechtskräftig verurteilt wurde und das Schutzrecht später zurückgenommen oder vernichtet wird, kommt die Restitutionsklage in Betracht (BGH GRUR 17, 428; 12, 753 [BGH 17.04.2012 - X ZR 55/09]; WRP 10, 1265 [BGH 29.07.2010 - Xa ZR 118/09]; Ddorf GRURPrax 15, 22; v 16.1.14 – I-2 U 19/13 – nv; GRUR-RR 11, 122, Rz 60; LG Düsseldorf GRUR 87, 628 mwN; aA Schickedanz GRUR 00, 570 mwN). Hier ist freilich zu beachten, dass die Nichtigerklärung des Patents auch im Revisionsverfahren geltend gemacht werden muss, da andernfalls ein Verschulden im Sinne des § 582 vorliegt (BGH GRUR 17, 428 [BGH 10.01.2017 - X ZR 17/13]); während bei den sonstigen Restitutionsgründen eine Geltendmachung in der Revision nicht notwendig ist (§ 582 Rn 3), um dem Verschuldensvorwurf zu entgehen, ist dies bei der Patentnichtigkeitserklärung anders: Es handelt sich bei ihr nicht um (präkludierten) neuen Tatsachenstoff, sondern um eine Änderung der Rechtslage.
Die Norm gilt nicht (analog) für eine rechtskräftige Entscheidung, die auf einer im Verfahren nach § 98 ArbGG für unwirksam erklärten Allgemeinverbindlichkeitserklärung (AVE) beruht (BAGE 156, 213; Hessisches LAG v 3.3.17 – 10 Sa 1348/16), da es sich weder bei der AVE um ein präjudizielles Urteil noch bei ihrer Unwirksamkeitserklärung nach § 98 ArbGG um eine aufhebende Entscheidung handelt.
Rn 11
Eine Analogie zu diesem Restitutionsgrund ist nicht möglich, wenn sich die Unionsrechtswidrigkeit eines rechtskräftigen Urteils im Vorabentscheidungsverfahren des EuGH ergibt (BFH DVBl 78, 501 [BFH 27.09.1977 - VII K 1/76]; Köln BB 04, 1134; Koch EuZW 95, 78, 84; Poelzig JZ 07, 858, 867 mwN; vgl noch u. Rn 18). Hierbei fehlt es an der ›dritten Entscheidung‹ im og Sinne, so dass lediglich ein Fall vorliegt, wo ein (höherrangiges) Urt im Nachhinein eine dem angegriffenen Urt widersprechende Rechtsauffassung festschreibt.
Soweit im Verbandsklageverfahren nach dem UWG oder dem UKlaG mehrere Verfahren wegen derselben Verletzung stattfinden können, liegt in einander widersprechenden Urteilen kein iRv Nr 6 analogiefähiger Restitutionsgrund (aA Hasselbach GRUR 97, 40 [BGH 14.12.1995 - I ZR 240/93]). Eine Klage desselben oder eines anderen Verbandes ist möglich und der Klagegegner kann sich – außerhalb des Anwendungsbereichs von §§ 10, 11 UKlaG – in einem weiteren Prozess nicht auf den Ausgang des anderen Verfahrens berufen (Meller-Hannich, Verbraucherschutz im Schuldvertragsrecht, S 309).
Rn 12
Vorrang vor Nr 6 hat die Regelung des § 79 II BVerfGG (BGH VersR 06, 1662 = ZEV 06, 509 mit Anm Musielak; BAG v 10.10.02 – 2 AZR 63/01 – nv; s schon BFH DVBl 78, 501 [BFH 27.09.1977 - VII K 1/76]; anders wohl Hamm v 2.9.16 – 11 U 16/16). Da diese Norm rechtskräftig abgeschlossene Verfahren nicht mehr in Frage stellt, ermöglicht eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungswidrigkeit einer Norm oder deren Auslegung also keine Wiederaufnahme (vgl BGH NJW 13, 1676, 16...