Prof. Dr. Caroline Meller-Hannich
Rn 14
Bei dem Auffinden oder Benutzbarwerden einer bislang nicht greifbaren Urkunde, die eine der Partei günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würde, handelt es sich um den praktisch bedeutsamsten Restitutionsgrund.
Der Urkundenbegriff meint sowohl öffentliche als auch private Urkunden iSv §§ 415 ff, denen die dort jeweils beschriebene formelle Beweiskraft zukommt. Es geht also um schriftlich verkörperte Gedankenerklärungen, die zur Beweiserhebung geeignet sind. Darüber hinaus sind auch Urkunden mit frei zu würdigendem Beweiswert, etwa Strafbefehle oder Strafurteile, solche iSd Nr 7b (BGH NJW 80, 1000 [BGH 06.07.1979 - I ZR 135/77]; NJW-RR 91, 380; BAGE 122, 190, 194 = NJW 07, 3803, 3804 [BAG 25.04.2007 - 6 AZR 436/05]). Entscheidend sind hier immer die ihnen zugrunde liegenden tatsächlichen Vorgänge, nicht die beantworteten Rechtsfragen (FG Hambg v 21.8.09 – 4 K 181/09 – nv; auch zur staatsanwaltschaftlichen Einstellungsverfügung als Urkunde; LSG Hamburg v 17.1.19 – L 4 AS 320/17; auch im Hinblick auf Bescheinigungen des Finanzamtes über die steuerrechtliche Einordnung einer Tätigkeit). Elektronische Daten können durch einen Ausdruck Urkundeneigenschaft erlangen (BVerwG BayVBl 17, 713 [BVerwG 03.05.2017 - BVerwG 9 B 1.17]; LSG Baden-Württemberg v 12.1.17 – L 6 VS 578/16). Die unbeglaubigte Fotokopie eines Schriftstücks ist keine Urkunde iSd Nr 7b (LAG Rheinland-Pfalz v 14.1.21 – 5 Sa 370/19; St/J/Jacobs § 580 Rz 33; aA LSG Baden-Württemberg v 17.12.20 – L 13 R 3354/20 WA). Wenn die Echtheit einer Urkunde unstreitig ist, muss im Verfahren nicht die Originalurkunde vorgelegt werden; es genügt eine Kopie (Ddorf v 6.4.17 – 15 UH 1/16).
Bislang unbekannte Augenscheinsobjekte oder Zeugen oder allgemein das Bekanntwerden neuer Tatsachen (s aber Rn 15) genügen jedoch nicht (Schilken/Brinkmann ZPR § 28 Rz 9 mwN). Insoweit stellt Nr 7b auf die besondere Kraft des Urkundenbeweises ab, die anderen Beweismitteln nicht zukommt. Nicht einschlägig sind deshalb auch ›Verkörperungen‹ anderer Beweismittel, etwa nach Rechtskraft erstellte Sachverständigengutachten (BVerwG NVwZ-RR 16, 934; Kobl NJW-RR 95, 1278), Zeugenprotokolle oder einfache schriftliche Erklärungen von Zeugen (BGH NJW 03, 2088, 2089; BGHZ 80, 389; BVerwG v 11.10.04 – 7 B 83/04 – nv), seien sie auch an Eides statt versichert (BGH MDR 03, 562; Bay VerwGH v 8.12.10 – 5 ZB 10.2635 – nv, Rz 2). Möglich ist aber eine Urkunde, die die Glaubwürdigkeit eines Zeugen erschüttern soll (BGHZ 38, 333, 338; R/S/G § 161 Rz 29; Foerste NJW 96, 345, 347) oder eine verkörperte amtliche Auskunft (AG Stuttgart FamRZ 15, 1717). Keine Urkunde ist ein neues Gesetz bzw dessen Verkörperung im Gesetzestext (BVerwG v 28.7.05 – 9 B 14/05 – nv; ThoPu/Seiler § 580 Rz 14). Dasselbe gilt (selbstverständlich) für eine neue Rechtsansicht, auf die sich eine Gerichtsentscheidung stützt (VG München v 16.12.10 – M 10 K 10.3747 – nv, Rz 33).
Nr 7b erfasst grds nur zur Zeit des Vorprozesses bereits errichtete Urkunden, denn nur diese Urkunden hätten in dem früheren Verfahren berücksichtigt werden müssen, wenn sie vorgelegt worden wären (BGH NJW 80, 1000; BGHZ 30, 60; BAGE 122, 190, 194; BVerwG NJW-RR 16, 934; NVwZ-RR 16, 934). Entscheidender Zeitpunkt ist dabei grds die letzte mündliche Verhandlung in der Berufungsinstanz, es sei denn die Urkunde hätte (etwa wegen Unzulässigkeit der Berufung) dort ohnehin nicht berücksichtigt werden können (BAGE 122, 190, 194). Nach überwiegender Ansicht in Rspr und Lit genügt es ansonsten, wenn nur die Tatsachen, auf die sich die Urkunde bezieht, bis zu diesem Zeitraum verortet sind, die Urkunde selbst aber nicht vor Abschluss des Vorprozesses errichtet werden konnte, zB Geburtsurkunde bzgl. Empfängniszeitpunkt, nachträglicher Anerkennungsbescheid über Schwerbehinderung im Kündigungsschutzprozess (BSG FamRZ 63, 236 mit Anm Bosch; BAG NJW 85, 1485 [BAG 15.08.1984 - 7 AZR 558/82]; BAGE 122, 190, 194 [BAG 25.04.2007 - 6 AZR 436/05]; LAG Schleswig-Holstein v 26.5.16 – 5 Sa 472/15 Rz 52; Gaul AP Nr 13 SchwbG § 12; teils aA R/S/G § 161 Rz 32). Seinen guten Grund findet diese Ausdehnung in der formellen Beweiskraft solcher schon zwangsläufig zurückliegende Tatsachen beweisenden Urkunden. Bei solchen Urkunden verhindert insoweit auch § 582 die Zulässigkeit nicht (Gaul AP Nr 13 SchwbG § 12 mwN).
Mit Auffinden oder Benutzbarwerden ist gemeint, dass die Partei nunmehr in den Stand gesetzt wird, den Urkundenbeweis anzutreten, entweder weil die Urkunde bislang in ihrer Existenz oder ihrem Verbleib unbekannt, unzugänglich oder in Händen eines nicht vorlegungspflichtigen Dritten war (BGH NJW-RR 13, 833 [BGH 24.04.2013 - XII ZB 242/09]; ThoPu/Seiler § 580 Rz 16 f), oder weil sie noch nicht existierte. Die Wiederaufnahme erfordert also, dass die betroffene Urkunde ohne Verschulden nicht bereits im vorangegangenem Verfahren vorgelegt wurde (LSG Hamburg v 8.1.13 – L 3 VE 1/11 – nv; VG Berlin v 17.2.11 – 29 K 79.10 – nv, Rz 42; vgl § 582 Rn 4, 6). Dabei kommt es auf die frühere Bekann...