Prof. Dr. Caroline Meller-Hannich
Rn 16
Dieser Restitutionsgrund wurde durch Art 10 Nr 6 des zweiten Justizmodernisierungsgesetzes (BGBl I 06, 3416) eingefügt und gilt nach der Übergangsvorschrift des § 35 EGZPO nur für ab dem 31.12.06 rechtskräftige Urteile. Bis dahin hatten Urteile des EGMR trotz ihrer Bindungswirkung nach Art 46 I EMRK nur im Strafprozess, § 359 Nr 6 StPO, Einfluss auf die Rechtskraft innerstaatlicher Urteile; die analoge Anwendung der Restitutionsgründe des § 580 in zivilrechtlichen Verfahren wurde großteils verneint (s Reinkenhof NJ 04, 250; Selbmann ZRP 06, 124; ders NJ 05, 103; Bremen OLGR 06, 467). Dieser – durchaus der Differenzierung in § 79 BVerfGG entsprechende – Zustand wurde als unbefriedigend empfunden (BTDrs 16/3038, 39 mwN). Zwingende Vorgabe aus der EMRK war die Einführung des neuen Restitutionsgrundes aber nicht (so auch BTDrs 16/3038, 39 mwN; vgl BVerfG NJW 13, 3714 [BVerfG 18.08.2013 - 2 BvR 1380/08]). Die an einen Stichtag anknüpfende Übergangsfrist des § 35 EGZPO ist deshalb verfassungs- und konventionsgemäß (vgl BVerfG FamRZ 15, 1263; NZA 16, 1163–1166; BGH NJW-RR 14, 577). Dem Gesetzgeber war dabei bewusst, dass der Gegner des Beschwerdeführers, dh die im Vorprozess obsiegende Partei, im Verfahren vor dem EGMR nur geringe Beteiligungsrechte hat (BTDrs 16/3038, 40). Das Gericht kann insofern die Wiederaufnahme nicht mit der Begründung verweigern, der Klagegegner sei im Verfahren vor dem EGMR als Drittbeteiligter nicht ausreichend gehört worden und ihm könne deshalb der Vorteil der Rechtskraft nicht genommen werden (so jedoch v Graevenitz ZRP 20, 84, 87).
Rn 17
Voraussetzung ist, dass vom EGMR eine Konventionsverletzung festgestellt wird und diese wegen der Rechtskraft des verstoßenden Urteils nicht abgestellt werden kann (BTDrs 16/3038, 39). Der Restitutionsgrund ist nicht schon dadurch gegeben, dass der EGMR eine Rechtsfrage anders beurteilt als die angefochtene Entscheidung, wenn der EGMR das Vorliegen einer Konventionsverletzung gleichwohl ablehnt (BGH WM 21, 1249). Das angefochtene Urt muss auf der vom EGMR festgestellten Konventionsverletzung beruhen. Eine Ursächlichkeit im Sinne einer conditio sine qua non ist dafür ausreichend (vgl OVG NRW DVBl 15, 1588), aber nicht notwendig. Richtigerweise sollte man vielmehr die zum Kausalitätserfordernis von Nr 6 erörterten Wertungen heranziehen (s Rn 12), so dass es auf die Frage, ob das Ergebnis ein anderes wäre, nicht ankommen kann (so auch OVG NRW v 19.8.15 – 13 A 1299/14; teils abw BTDrs 16/3038, 40: Anlehnung an § 545 I; anders auch Musielak/Voit/Musielak § 580 Rz 24: Entscheidung wäre möglicherweise anders ausgefallen). Insofern genügt es, dass die Konventionsverletzung für die rechtlichen Erwägungen oder die tatsächlichen Feststellungen irgendwie bestimmend waren.
Solange die Entscheidung des EGMR nicht endgültig ist, liegt kein Restitutionsgrund vor (BVerfG NJW-RR 05, 140). Im Hinblick auf die meist lange Verfahrensdauer am EGMR (Wittinger NJW 01, 1238, 1242; vgl Frankf BB 11, 1602) wurde die Ausschlussfrist des § 586 II kritisiert (Csaki S 180; s noch § 586 Rn 1). Seit dem 27.10.11 gilt die fünfjährige Ausschlussfrist im Falle des § 580 Nr 8 nach § 586 Abs 4 nicht mehr (s noch § 586 Rn 15). Die Möglichkeit der Restitution läuft parallel zur von Art 41 EMRK für diese Fälle vorgesehenen gerechten Entschädigung und ist durch diese nicht ausgeschlossen. Im Rahmen eines eventuellen Schmerzensgeldprozesses kann die Entschädigung aber Bedeutung erlangen (BTDrs 16/3038, 39).
Rn 18
Die neue Nr 8 führt zu Überschneidungen mit einigen anderen Wiederaufnahmegründen, da Art 6 EMRK ein Recht auf ein faires Verfahren gewährleistet, was durchaus die von § 580 Nr 1–4 aufgegriffenen Tatbestände erfasst und dort unter abweichenden Voraussetzungen sanktioniert wird (vgl Braun NJW 07, 1620). Die einzelnen Restitutionsgründe begrenzen einander aber nicht, so dass entweder die Verurteilung des Täters notwendig ist, §§ 580 Nr 1–4, 581, oder eine Verletzung des fairen Verfahrens durch den EGMR festgestellt sein muss, § 580 Nr 8, damit es zur Wiederaufnahme kommt. Im Unterschied zu Nr 7a setzt Nr 8 keine identischen Streitgegenstände voraus, sondern – insoweit wie Nr 6 – ein Beruhen des angefochtenen Urteils auf dem EMRK Verstoß. Von Nr 6 ist er insofern abzugrenzen, als die Aufhebung eines vorgängigen Urteils nicht erforderlich ist. Von Nr 7b ist Nr 8 dadurch zu unterscheiden, dass es bei den Urkunden um den durch sie beurkundeten Tatsachenstoff, bei den EGMR Urteilen um die Rechtsfrage der Konventionsverletzung geht. Eine analoge Anwendung auf Urteile des EuGH kommt nicht in Betracht (s auch Rn 11 sowie LG Münster v 18.9.14 – 11 O 334/12). Unionsrechtswidrig gewährte staatliche Beihilfen können nach Ansicht des EuGH aber wegen des Grundsatzes der Effektivität trotz Rechtskraft zurückgefordert werden (EuGH DVBl 16, 42).