Prof. Dr. Markus Gehrlein
I. Begriff.
Rn 2
Eine prozessrechtlich notwendige Streitgenossenschaft ist dadurch gekennzeichnet, dass die gegen einen Streitgenossen ergehende Entscheidung im Verhältnis zu dem anderen Streitgenossen Rechtskraft oder Gestaltungswirkung ausübt (St/J/Bork Rz 5; MüKoZPO/Schilken Rz 5). Im Fall der Rechtskrafterstreckung ist eine einheitliche Entscheidung geboten, weil sogar dann, wenn die Verfahren selbstständig nacheinander geführt würden, nicht abw erkannt werden dürfte (BGHZ 92, 351, 354 = NJW 85, 385). Da nur ein positives Gestaltungsurteil Gestaltungswirkung zeitigt, besteht grds die Möglichkeit, dass nach Abweisung einer ersten Gestaltungsklage ein weiterer Klageberechtigter durch die Erhebung einer neuen Gestaltungsklage die Rechtslage auch im Verhältnis zu dem Erstkläger modifiziert. Dieser Gefahr ist bei gleichzeitiger Erhebung mehrerer Gestaltungsklagen durch eine einheitliche Entscheidung vorzubeugen (MüKoZPO/Schilken Rz 10; Lindacher JuS 86, 379, 383). Handelt es sich um eine prozessrechtlich notwendige Streitgenossenschaft, sind Einzelklagen – im Unterschied zur materiell-rechtlich notwendigen Streitgenossenschaft – uneingeschränkt zulässig (BGHZ 36, 187 f = NJW 62, 633; BGHZ 30, 195, 198 = NJW 59, 1683); freilich sollte das Gericht die Verfahren durch eine Verbindung (§ 147) zusammenführen.
II. Rechtskrafterstreckung.
Rn 3
Eine notwendige Streitgenossenschaft liegt sowohl bei einer allseitigen Rechtskrafterstreckung, die bei stattgebendem und klageabweisendem Urt eingreift, als auch bei einer nur einseitigen Rechtskrafterstreckung vor, die entweder an die Klagestattgabe oder Klageabweisung anknüpft.
1. Allseitige Rechtskrafterstreckung.
Rn 4
Eine allseitige Rechtskrafterstreckung sehen nur wenige Vorschriften vor: Der praktisch bedeutsame Fall einer Rechtskrafterstreckung bei Veräußerung der streitbefangenen Sache (§ 325) erzeugt keine Streitgenossenschaft, weil grds der Rechtsvorgänger den Rechtsstreit für den selbst nicht in den Prozess einrückenden Rechtsnachfolger fortführt, der Rechtsnachfolger allenfalls den Rechtsstreit von dem daraus ausscheidenden Rechtsvorgänger übernehmen kann, beide aber jedenfalls nie gemeinsam an dem Verfahren beteiligt sind. Ebenso verhält es sich bei der Rechtskrafterstreckung der Vor- und Nacherbschaft (§ 326), weil der Nacherbe während der Dauer der Vorerbschaft nicht prozessführungsbefugt ist. Unter den Voraussetzungen des § 2213 I 1 BGB kann sich infolge der Rechtskrafterstreckung des § 327 eine notwendige Streitgenossenschaft zwischen Testamentsvollstrecker und Erbe ergeben. Ferner verwirklicht sich eine notwendige Streitgenossenschaft iRd durch § 856 IV angeordneten Rechtskrafterstreckung, wenn ein Pfändungsgläubiger nach Forderungspfändung und -überweisung den Drittschuldner wegen der Pflichten aus §§ 853 bis 855 in Anspruch nimmt und sich ein anderer Pfändungsgläubiger dem Rechtsstreit anschließt (§ 856 II). Eine allseitige Rechtskrafterstreckung sieht schließlich § 640h vor, wobei freilich regelmäßig eine gleichzeitige Parteistellung und damit eine Streitgenossenschaft ausscheiden.
2. Einseitige Rechtskrafterstreckung.
Rn 5
Sie wird bei stattgebenden Klagen auf Feststellung der Nichtigkeit eines Hauptversammlungsbeschlusses durch § 248 AktG begründet. Ebenso verhält es sich bei erfolgreichen Klagen nach §§ 2342 BGB, 246, 275 AktG, 75 GmbHG, 51, 94 GenG, 1495, 1496 BGB, die durch das zusätzliche Merkmal der Gestaltungswirkung gekennzeichnet sind. Notwendige Streitgenossen sind ebenso mehrere Wohnungseigentümer in einer vor dem 1.12.2020 erhobenen Beschlussmängelklage (BGH NJW 16, 716 [BGH 23.10.2015 - V ZR 76/14] Rz 13). Deswegen werden nicht erschienene Kläger von den anwesenden Klägern vertreten (BGH NZM 22, 806 [BGH 08.07.2022 - V ZR 207/21] Rz 9).
III. Gestaltungswirkung.
Rn 6
Löst ein Urt für die Streitgenossen Gestaltungswirkung, nämlich eine unmittelbare Änderung der Rechtslage, aus, liegt häufig, weil das Recht aus materiell-rechtlichen Gründen nur von mehreren Personen gemeinsam verfolgt werden kann, bereits eine materiell-rechtlich notwendige Streitgenossenschaft (§ 62 I Alt 2) vor. Wegen der Gefahr eines Widerspruchs ist selbst dann, wenn der Kl isoliert vorgehen dürfte, tatsächlich aber gemeinsam geklagt wurde, auch eine prozessrechtlich notwendige Streitgenossenschaft gegeben. Beispiele bilden die Klage auf Aufhebung der fortgesetzten Gütergemeinschaft (§ 1496 BGB), die Erbunwürdigkeitsklage (§ 2342 BGB), die Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage (§§ 248, 249 AktG, die auf die GmbH analog anwendbar sind, § 51 V GenG) gegen Gesellschafterbeschlüsse (BGHZ 122, 211, 240; BGH NJW 99, 1638), die Nichtigkeitsklage gegen AG, Genossenschaft und GmbH (§§ 275 IV AktG, 75 II GmbHG, 96 GenG) sowie eine gemeinschaftliche Vollstreckungsgegenklage nach § 767.
IV. Behandlung sonstiger Urteilswirkungen.
Rn 7
Kommt weder eine Rechtskrafterstreckung noch eine Gestaltungswirkung zum Tragen, so fragt es sich, ob sonstige Urteilswirkungen eine notwendige Streitgenossenschaft konstituieren. Der Rechtsanwender muss sich stets vor Augen halten, dass materiell-rechtliche Erwägungen und Gründe der Logik, die eine einheitliche Entscheidung notwendig oder wen...