Gesetzestext
1In den Fällen des § 708 Nr. 4 bis 11 hat das Gericht auszusprechen, dass der Schuldner die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung abwenden darf, wenn nicht der Gläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit leistet. 2§ 709 Satz 2 gilt entsprechend, für den Schuldner jedoch mit der Maßgabe, dass Sicherheit in einem bestimmten Verhältnis zur Höhe des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages zu leisten ist. 3Für den Gläubiger gilt § 710 entsprechend.
A. Ratio der Abwendungsbefugnis.
Rn 1
Die Vorschrift bringt die Interessen des Schuldners in der Zwangsvollstreckung in den Fällen zur Geltung, in denen der Gläubiger vor Rechtskraft des Urteils vollstrecken kann, ohne zuvor Sicherheit leisten zu müssen. Er muss die sofortige unbedingte Vollstreckung dem Schuldner zwar kurzfristig anzeigen (Kobl DGVZ 85, 139, 141). Doch grds gebührt dem Gläubiger in der Zwangsvollstreckung der Vorrang (Köln NJW-RR 87, 189 [OLG Köln 08.09.1986 - 2 U 79/86]). § 711 bewirkt dadurch einen Ausgleich mit den Interessen des Schuldners, dass es ihm gestattet wird, die Vollstreckung seinerseits durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung abzuwenden. Damit kann er freilich nicht erreichen, dass die Zwangsvollstreckung überhaupt unterbleibt. Was dagegen bewirkt werden kann, ist, dass der Gläubiger Sicherheit leistet, bevor er vollstreckt. Einer gesonderten Androhung der Vollstreckung bedarf es dann nicht mehr (Köln BeckRS 09, 05469).
B. Entscheidung über die Abwendungsbefugnis.
Rn 2
Eine Abwendungsbefugnis hat der Schuldner nur bei Urteilen nach § 708 Nr 4–11, also bei Entscheidungen, die vor Rechtskraft ohne Sicherheitsleistung vollstreckbar sind. Sie muss vAw in den Urteilstenor aufgenommen werden, wenn nicht § 713 einschlägig ist. Das Gericht hat im prozessualen Anwendungsbereich des § 711 die Wahl, ob es die Abwendungsbefugnis des Schuldners auf der Grundlage von S 1 oder nach S 2 tenoriert. Soweit als Sicherheitsleistung eine Geldsumme angeordnet wird, ist sie im Tenor zu beziffern. In der Regel ist sie für Gläubiger und Schuldner gleich hoch. Die Entscheidung nach S 1 kann wie folgt formuliert werden: ›Der Beklagte kann die Zwangsvollstreckung in Höhe von […] Euro abwenden, wenn nicht der Kl vor der Vollstreckung in gleicher Höhe Sicherheit leistet.‹ Nach S 2 kann der Tenor wie folgt lauten: ›Der Beklagte kann die Zwangsvollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 Prozent des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kl vor der Zwangsvollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 Prozent des zu vollstreckenden Betrags leistet.‹ Auch wenn das Gericht nach S 2 tenoriert, kann der Schuldner einer Teilvollstreckung durch den Gläubiger nur durch Leistung der gesamten Sicherheit begegnen (Celle NJW 03, 73 [OLG Celle 20.08.2002 - 16 U 106/01]; aA König NJW 03, 1372 [BGH 26.09.2002 - IX ZB 180/02]).
C. Inhalt und Rechtsfolgen der Abwendungsbefugnis.
Rn 3
Wie die Abwendungsbefugnis ihrem Inhalt nach im Einzelnen ausgestaltet wird, steht im Ermessen des Gerichts, das Parteianregungen insoweit aufgreifen darf (Zö/Herget § 711 Rz 1). Die Sicherheitsleistung nach § 108 kann ihrem Inhalt nach auch in der Hinterlegung von Geld oder Wertpapieren bestehen. Die Höhe muss so bemessen werden, dass der Schaden, der durch den Aufschub der Vollstreckung eintreten kann, aufgefangen wird. Allein auf den Verzögerungsschaden ist die Sicherheitsleistung ihrer Höhe nach dagegen nicht begrenzt. So umfasst etwa die zur Abwendung einer Räumungsvollstreckung zu leistende Sicherheit nicht nur die Räumung selbst, sondern auch darüber hinausgehende Erfüllungs- und Verzögerungsschäden (KG MDR 10, 1016 = WuM 10, 585 [KG Berlin 04.05.2010 - 6 U 174/09]).
Rn 4
Die Rechtsfolgen der Abwendungsbefugnis differieren für Gläubiger und Schuldner. Wenn der Gläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit leistet, ist die Vollstreckung auch dann zulässig, wenn der Schuldner bereits zur Abwendung der Zwangsvollstreckung Sicherheit geleistet hat (Zweibr Rpfleger 99, 454 [OLG Zweibrücken 21.05.1999 - 3 W 115/99]). Der Schuldner kann seine Sicherheitsleistung in diesem Fall aber nach § 109 zurückverlangen (Köln MDR 93, 270). Leistet der Schuldner Sicherheit, ist die Zwangsvollstreckung, solange der Gläubiger nicht selbst Sicherheit stellt und zur Zwangsvollstreckung übergeht, unzulässig und darf nicht eingeleitet werden (BGH NJW-RR 12, 1088 [BGH 25.04.2012 - I ZR 136/11]). Ist das dagegen bereits geschehen, muss sie bis zur Sicherheitsleistung des Gläubigers oder dessen erfolgreichen Vorgehens nach § 710 (§ 711 S 3) gem §§ 775 Nr 3, 776 eingestellt werden. Diese Wirkung endet entweder mit dem Eintritt der Rechtskraft des Urteils, auch der eines Vorbehaltsurteils, selbst wenn das Nachverfahren noch rechtshängig ist (BGH NJW 78, 43 [BGH 28.09.1977 - VIII ZR 51/77]) oder mit dessen Aufhebung nach § 717. Leistet der Schuldner dagegen keine Sicherheit, kann der Gläubiger vollstrecken, ohne eine eigene Sicherheit bestellen zu müssen. Allerdings ist die Zwangsvollstreckung in diesem Fall nach Maßgabe des §§ 720, 839 beschränkt (Oldbg Rpfleger 85, 504): Gepfändetes Geld muss ebenso hinterlegt werden ...