Prof. Dr. Markus Gehrlein
Gesetzestext
1Wird von dem verklagten Schuldner einem Dritten, der die geltend gemachte Forderung für sich in Anspruch nimmt, der Streit verkündet und tritt der Dritte in den Streit ein, so ist der Beklagte, wenn er den Betrag der Forderung zugunsten der streitenden Gläubiger unter Verzicht auf das Recht zur Rücknahme hinterlegt, auf seinen Antrag aus dem Rechtsstreit unter Verurteilung in die durch seinen unbegründeten Widerspruch veranlassten Kosten zu entlassen und der Rechtsstreit über die Berechtigung an der Forderung zwischen den streitenden Gläubigern allein fortzusetzen. 2Dem Obsiegenden ist der hinterlegte Betrag zuzusprechen und der Unterliegende auch zur Erstattung der dem Beklagten entstandenen, nicht durch dessen unbegründeten Widerspruch veranlassten Kosten, einschließlich der Kosten der Hinterlegung, zu verurteilen.
A. Normgegenstand.
Rn 1
Im Fall der Hauptintervention (§ 64) streiten zwei Gläubiger über eine Forderung, gegen die der Bekl Einwendungen erhebt. In dieser Situation kann der Hauptintervenient die Initiative ergreifen und seinen Anspruch sowohl gegen den Kl als auch den Bekl des Hauptprozesses durchsetzen. Abweichend hiervon ist der Schuldner (Bekl) im Prätendentenstreit (§ 75) zur Erfüllung des Klageanspruchs bereit. Die praktisch wenig bedeutsame Norm erleichtert dem Bekl das Ausscheiden aus dem Rechtsstreit, wenn er an der Klärung, wer sein Gläubiger ist, nicht interessiert ist. Der Schuldner, der sich über seine Verpflichtung, aber nicht die Person des Gläubigers im Klaren ist, kann jedes Prozessrisiko durch rechtzeitige Hinterlegung unter Rücknahmeverzicht (§§ 372 S 2, 396 BGB) ausschließen. Nach Klageerhebung eröffnet § 75 dem Bekl (Urbeklagten) eine entsprechende prozessuale Möglichkeit: Mit Hilfe einer Streitverkündung kann er auf den Beitritt des anderen Forderungsprätendenten (Zweitprätendenten) hinwirken und im Fall eines Beitritts, der zu einem Prozess des Zweitprätendenten gegen den Kl des Hauptprozesses (Urkläger, Erstprätendenten) führt, nach Hinterlegung unter Rücknahmeverzicht aus dem Rechtsstreit entlassen werden. Ein Prätendentenstreit kann zwischen den Gläubigern nicht nur im Wege des § 75, sondern auch mit Hilfe einer Feststellungsklage des einen gegen den anderen Gläubiger, die freilich keine Rechtskraft ggü dem Schuldner entfaltet, ausgetragen werden (BGHZ 123, 44, 47 = NJW 93, 2539; BGH NJW-RR 87, 1439 f). Schließlich besteht die Möglichkeit, dass zwei Schuldner durch eine Feststellungsklage untereinander klären, wer dem Gläubiger tatsächlich verpflichtet ist (BGHZ 123, 44, 47 = NJW 93, 2539).
B. Voraussetzungen des Prätendentenprozesses.
I. Forderung.
Rn 2
Der Rechtsstreit muss eine Forderung auf Leistung hinterlegungsfähiger Gegenstände (§ 372 BGB), also nicht notwendig eine Geldforderung, betreffen. Wegen der Möglichkeit der Hinterlegung kommt als Klageart nur eine Leistungsklage, keine Feststellungsklage in Betracht (BGH KTS 81, 217 f). Eine Aufrechnung genügt – schon wegen der fehlenden Rechtshängigkeit – nicht.
II. Beanspruchung durch Dritten.
Rn 3
Der Dritte – also eine andere Person als die Prozessparteien – muss die den Gegenstand des Rechtsstreits bildende Forderung – nicht notwendig in vollem Umfang – in Anspruch nehmen. Zwischen der streitbefangenen und der beanspruchten Forderung muss zumindest eine Teilidentität bestehen (BGH NJW 96, 1673 [BGH 12.03.1996 - XI ZR 108/95]). Sie liegt vor, wenn es sich bei dem Dritten um einen Pfand- oder Sicherungsgläubiger handelt.
III. Streitverkündung und Beitritt.
Rn 4
Schließlich bedarf es einer Streitverkündung des Urbeklagten an den Zweitprätendenten. Es liegt im Ermessen des Schuldners, ob er von der Befugnis zur Streitverkündung Gebrauch macht. Die Form der Streitverkündung bestimmt sich nach § 73. Weiteres Erfordernis ist der Beitritt des Dritten, der im Anwaltsprozess dem Anwaltszwang unterliegt. Der Eintritt bedeutet die Geltendmachung der Forderung in der Klägerrolle ggü dem Urbeklagten als Schuldner und dem Urkläger als angeblichem Gläubiger. Sieht der Dritte von einem Beitritt ab, wird der Rechtsstreit zwischen den ursprünglichen Parteien fortgesetzt. Der Dritte kann sich auch damit begnügen, dem Streitverkünder als Nebenintervenient beizutreten (BGH KTS 81, 217 f).
IV. Hinterlegung.
Rn 5
Letzte Voraussetzung bildet die Hinterlegung des Leistungsgegenstandes unter Rücknahmeverzicht zugunsten der streitenden Gläubiger. Die Hinterlegungsbefugnis folgt unmittelbar aus § 75, so dass die weiteren Voraussetzungen des § 372 entbehrlich sind (BGH NJW 97, 1501 [BGH 28.01.1997 - XI ZR 211/95]). Die Schuld muss in vollem Umfang einschließlich Nebenleistungen wie Zinsen durch die Hinterlegung getilgt werden.
C. Rechtswirkungen.
I. Entlassung des Beklagten.
Rn 6
Liegen die Voraussetzungen des § 75 vor, ist der Urbeklagte auf seinen Antrag aus dem Rechtsstreit zu entlassen. Der Antrag ist von dem Urbeklagten in der mündlichen Verhandlung in Anwesenheit des Urklägers und des Zweitprätendenten zu stellen (§ 297). Wird dem Antrag stattgegeben, wird die Entlassung durch Endurteil ausgesprochen. Zugleich sind dem Beklagten die durch seinen unbegründeten Widerspruch gegen die Existenz der Schuld entstandenen Kosten des Kl aufzuerlegen. Über die ...