Rn 12
Eine sittenwidrige Härte kann dann vorliegen, wenn das Leben oder die Gesundheit des Schuldners oder naher Angehöriger durch die Vollstreckungsmaßnahme gefährdet werden. Insb bei der Vollstreckung von Räumungstiteln ist dem Bedeutungsgehalt des Grundrechts nach Art 2 II 1 GG angemessen Rechnung zu tragen. Es entspricht der Rspr des BVerfG und des BGH, dass die Vollstreckungsgerichte die erforderlichen Vorkehrungen zu treffen haben, um in derartigen Fällen Verfassungsverletzungen auszuschließen und den sich für Leben und körperliche Unversehrtheit ergebenden Schutzpflichten zug des Schuldners genüge zu tun (zu dieser Problematik insb Schuschke NJW 06, 874 ff). So können in besonders gelagerten Ausnahmefällen die Interessen des Schuldners auch zur Einstellung der Zwangsvollstreckung auf unbestimmte Zeit und damit im Ergebnis zur Wirkungslosigkeit des Titels führen (BVerfG NJW 98, 295, 296; BGHZ 163, 66, 73).
Rn 13
Sittenwidrige Härte einer Räumungsvollstreckung wird angenommen bei schwerer Erkrankung des Schuldners oder der Gefahr sonstiger räumungsbedingter Gesundheitsbeeinträchtigungen (BVerfG WM 16, 556, 557; BGH NJW 08, 78, 79; NJW-RR 16, 1104, 1105). Dabei sind nicht nur die Gefahren für Leben und Gesundheit des Schuldners während des Räumungsvorgangs, sondern auch die Lebens- und Gesundheitsgefahren im Anschluss an die Zwangsräumung einzubeziehen (BVerfG NJW 22, 2537 Rz 21 mwN). Nicht ausreichend ist es, wenn die Fortsetzung der Zwangsvollstreckung lediglich zu physischen oder psychischen Belastungen des Schuldners oder seiner Angehörigen führt (BGH NJW-RR 11, 419 [BGH 02.12.2010 - V ZB 124/10]). Hohes Alter des Schuldners reicht für sich gesehen nicht aus, um eine sittenwidrige Härte der Räumungsvollstreckung zu begründen; dies kann allerdings im Zusammenhang mit weiteren Umständen der Fall sein, so mit drohendem Verlust der Autonomie des Schuldners durch die Räumung und der Gefahr des Eintritts nicht rückgängig zu machender gesundheitlicher Folgen (BVerfGE 84, 345, 347, 348 [BVerfG 21.09.1991 - 1 BvR 1466/91]; NJW 09, 3440, 3441; NJW-RR 14, 583, 584). Eine sittenwidrige Härte wird insb auch dann bejaht, wenn Räumungsvollstreckungsmaßnahmen oder Maßnahmen der Zwangsversteigerung zu einer Suizidgefährdung des Schuldners oder naher Angehöriger führen würden (BVerfG NJW 07, 2910, 2911; 16, 3090; NJW-RR 07, 228, 229; BGH NJW 06, 505, 506, 507; 07, 3719, 3720, 3721; WM 09, 358, 359). Dies gilt auch für die Gefahr des sog ›Bilanz-Selbstmords‹ bei drohender Räumungsvollstreckung von Gewerbemieträumen (BVerfG NJW-RR 01, 1523, 1524). Macht der Vollstreckungsschuldner für den Fall einer Zwangsräumung eine ihm drohende schwerwiegende Gesundheitsgefahr substantiiert geltend, hat sich die Tatsacheninstanz regelmäßig mittels sachverständiger Hilfe ein genaues und nicht nur ein oberflächliches Bild davon zu verschaffen, welche gesundheitlichen Folgen drohen, welchen Schweregrad die zu erwartende Gesundheitsbeeinträchtigung voraussichtlich erreichen und mit welcher Wahrscheinlichkeit dies eintreten kann (BVerfG WM 23, 2023, 2024). Der Tatrichter hat dementsprechend festzustellen, ob aufgrund einer Maßnahme der ZV ernsthaft mit einer Gefahr für Leib oder Leben des Schuldners zu rechnen ist. Die damit einhergehende Prognoseentscheidung hat er mit Tatsachen zu untermauern (BVerfG NJW-RR 14, 584, 585). Einzubeziehen sind dabei nicht nur die Gefahren für Leib und Gesundheit während des Räumungsvorgangs, sondern auch im Anschluss an die Zwangsräumung. Die Einstellung der ZV ist trotz einer Gefahr für Leib und Leben nicht notwendig, wenn der Gefahr durch geeignete Maßnahmen begegnet werden kann; Voraussetzung dafür ist aber, dass das Gericht die Geeignetheit der Maßnahmen sorgfältig geprüft und deren Vornahme sichergestellt hat (BVerfG Beschl v 29.6.22 – 2 BvR 447/22 Rz 44, juris = WM 22, 1540). Erweist sich die Einstellung der ZV als erforderlich, ist diese idR zu befristen und mit Auflagen zu versehen, die das Ziel haben, die Gesundheit des Schuldners wiederherzustellen (BGH Beschl v 1.6.23 – I ZB 108/22 Rz 20, juris). Die Gefahr für Leib und Leben muss im Hinblick auf die Vollstreckungsmaßnahme vorliegen, gegen die der Schuldner sich wendet. So muss, wird im Weg des § 765a Aufhebung des Zuschlagsbeschlusses beantragt, geprüft werden, ob der Eigentumsverlust durch den Zuschlag sich als maßgeblicher Grund für die Suizidgefahr erweist und diese nicht vornehmlich auf die bevorstehende Räumung des zwangsversteigerten Anwesens zurückzuführen ist (BVerfG NJW 07, 2910, 2911; WM 11, 2232, 2233; BGH NJW 06, 505, 507; NJW-RR 11, 1000, 1001). Eine Zwangsräumung erweist sich nicht deshalb als sittenwidrig, weil Ansteckungsgefahr durch das Corona-Virus besteht (Beschluss LG Verden v 8.5.20 – 6 T 33/20).
Rn 14
Der Schuldner muss alles ihm Zumutbare und Mögliche unternehmen, um Gefahr für Leben und Gesundheit seiner selbst und der mit ihm gemeinsam in der zu räumenden Wohnung lebenden Angehörigen möglichst auszuschließen (BGHZ 163, 6...