I. Verschulden.
Rn 15
Der Begriff des Verschuldens entspricht im Grundsatz dem des § 276 BGB und erfasst fahrlässiges und vorsätzliches Verhalten (MüKoZPO/Toussaint § 85 Rz 23, 25; Musielak/Voit/Weth § 85 Rz 17). Soweit zT keine Zurechnung vorsätzlichen Verhaltens für die Fälle der vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung oder der vorsätzlichen Außerachtlassung anwaltlicher Berufspflichten befürwortet wird (Zö/Althammer § 85 Rz 13), überzeugt dies nicht, denn der Zweck der Zurechnung im Außenverhältnis zu den übrigen Prozessbeteiligten (Rn 1) steht einer aus dem Innenverhältnis gewonnenen Einschränkung entgegen, zumal die Partei den Prozessbevollmächtigten ausgewählt hat und damit ihr das Risiko eines Fehlverhaltens aufzuerlegen ist, gegen das sie sich nach Maßgabe des Innenverhältnisses und ggf mit Schadensersatzansprüchen wehren kann. Die Gegenauffassung würde dazu führen, dass dieses Risiko entgegen II dem Gegner auferlegt würde (hM St/J/Jacoby § 85 Rz 22; MüKoZPO/Toussaint § 85 Rz 25; Musielak/Voit/Weth § 85 Rz 17; Anders/Gehle/Weber ZPO § 85 Rz 9). Davon zu unterscheiden ist allerdings der Fall des Vollmachtsmissbrauchs, der nicht zu einer Bindung der Partei an die Handlungen ihres Prozessbevollmächtigten führt (§ 83 Rn 3).
II. Sorgfaltsanforderungen.
Rn 16
Die gebotene Sorgfalt ist nach einem objektiv-typisierten Maßstab zu bestimmen (hM MüKoZPO/Toussaint § 85 Rz 23; Musielak/Voit/Weth § 85 Rz 18; Zö/Althammer § 85 Rz 13). Handelt es sich um einen Rechtsanwalt, ist von diesem die übliche, von einem ordentlichen Anwalt zu fordernde Sorgfalt zu beachten (BGH NJW 85, 495, 496 [BGH 18.10.1984 - III ZB 22/84]; 85, 1710, 1711 [BGH 22.11.1984 - VII ZR 160/84]; 07, 2047 [BGH 22.03.2007 - IX ZR 100/06]). Der Anwalt schuldet unter Zumutbarkeitsgesichtspunkten nicht die äußerst mögliche Sorgfalt (BGH NJW 92, 2488, 2489 [BGH 05.02.1992 - XII ZB 92/91]; 07, 1453, 1454). Im Grundsatz einhellig anerkannt ist auch, dass keine übersteigerten Anforderungen an die Sorgfalt gestellt werden dürfen, denn dadurch würde das Recht der Partei auf wirkungsvollen Rechtsschutz und einen zumutbaren Zugang zum Gericht verletzt (BVerfG NJW 07, 3342; BGH NJW 07, 1455, 1456; 07, 2778; FamRZ 18, 841 Rz 17), wenngleich im Einzelfall über die Einhaltung dieser Grenzziehung Uneinigkeit herrscht (Musielak/Voit/Weth § 85 Rz 18 mwN). Allgemein werden die Sorgfaltspflichten des Rechtsanwalts dahin umschrieben, dass dieser innerhalb der kürzest möglichen Zeit mit dem geringsten Aufwand das beste Ergebnis für den Auftraggeber zu erzielen (Oldbg VersR 81, 340, 341) und er von mehreren denkbaren und gleichwertigen Maßnahmen die sicherste und gefahrloseste zu wählen hat (BGH NJW 90, 2128, 2129, 94, 55, 56; 15, 3519, 3520). Der objektivierte Maßstab ermöglicht die Anpassung der Verschuldensanforderungen an die vom jeweiligen Prozessbevollmächtigten typischerweise zu erwartende Sorgfalt (gruppenbezogener Maßstab) mit der Folge, dass von einem juristischen Laien weniger zu erwarten ist als von einem Rechtskundigen (BGH VersR 85, 1185, 1186) und von einem Referendar weniger erwartet werden kann als von einem Rechtsanwalt (Zö/Althammer § 85 Rz 13).
III. Einzelne Pflichten.
Rn 17
Die Kasuistik zu den Anwaltspflichten im Prozess ist inzwischen kaum noch überschaubar, weshalb hier nur ein kurzer Überblick gegeben werden kann: Unklare Vorstellungen über die Rechtslage entlasten den Anwalt (BGH NJW 94, 55, 56) ebenso wenig wie ein Rechtsirrtum (BGH NJW 11, 386 [BGH 03.11.2010 - XII ZB 197/10]). Abfragen im Internet zur Ermittlung der Rechtslage genügen nur dann, wenn geeignete Quellen wie Datenbanken über Rechtsvorschriften benutzt werden (BGH NJW 14, 2503 [BGH 15.05.2014 - V ZB 172/13] Rz 11). Der Anwalt muss seine Postulationsfähigkeit prüfen (BGH NJW-RR 07, 278, 279 [BGH 31.10.2006 - VI ZB 20/06]). Er muss für einen ordnungsgemäßen PKH-Antrag sorgen (BGH NJW 01, 2720, 2721 [BGH 12.06.2001 - XI ZR 161/01]). Von denkbaren Alternativen muss er die sicherste wählen (BGH NJW 93, 333 [BGH 23.09.1992 - I ZR 224/90]; 94, 55, 56; 15, 3519, 3520), bei zweifelhaftem Rechtsmittel muss er dafür sorgen, dass sein Rechtsmittel nach jeder Betrachtung zulässig ist (Karlsr NJW-RR 22, 1078 [OLG Karlsruhe 27.04.2022 - 6 W 39/21] Rz 9). Er muss zweckmäßigerweise sofort nach Eingang des Urteils die Partei vom Zeitpunkt der Zustellung in Kenntnis setzen und sie über die mögliche Rechtsmitteleinlegung so zeitig unterrichten, dass sie noch innerhalb der Rechtsmittelfrist über die Einlegung entscheiden kann (BGH NJW 07, 2331 [BGH 23.05.2007 - IV ZB 48/05]; NJW-RR 17, 1210 [BGH 18.07.2017 - VI ZR 52/16] Rz 12). Er muss sicherstellen, dass die Information den Empfänger auch erreicht (BGH MDR 22, 788 Rz 14 zur Information per E-Mail). Ob und welche Rechtsmittel möglich sind, hat er eigenständig sorgfältig zu prüfen (BGH NJOZ 09, 3379, 3381), eine Delegation auf das Büropersonal ist nicht möglich (BGH NJW-RR 22, 346 [BGH 11.01.2022 - VIII ZB 37/21] Rz 9). Der Anwalt muss sich rechtzeitig erkundigen, ob der Rechtsmittelanwalt das Mandat übernommen hat (BGH ...