I. Beurteilungsmaßstäbe.
Rn 3
Von Anfang an ungerechtfertigt ist die Anordnung einer einstweiligen Rechtschutzmaßnahme, wenn sie bei richtiger Beurteilung der tatsächlichen und rechtlichen Gegebenheiten nicht hätte erlassen werden dürfen, weil die Voraussetzungen für ihren Erlass im Zeitpunkt der Anordnung objektiv nicht vorlagen (BGH NJW 88, 3268, 3269). Im Hinblick auf den Charakter der Schadensersatzhaftung als Risikohaftung, ist ein Vertrauen auf den Fortbestand der Rspr nicht ausschlaggebend (BGHZ 54, 76, 81 = NJW 70, 1459; BGH Beschl v 22.10.09 – IX ZR 165/07 Rz 3; MüKoZPO/Drescher Rz 3, 9; St/J/Grunsky, Rz 19; Wieczorek/Schütze/Thümmel, Rz 9; Schuschke/Walker/Walker Rz 7; Schilken 50 Jahre BGH, Festgabe aus der Wissenschaft, Bd. III 593, 604). Eine geänderte Rspr darf im Schadensersatzprozess nur dann nicht berücksichtigt werden, wenn bereits ein rechtskräftiges Urt in der Hauptsache vorliegt (BGH Beschl v 22.10.09 – IX ZR 165/07 Rz 3; MüKoZPO/Drescher Rz 14; Schuschke/Walker/Walker Rz 19; Ahrens FS Piper, 1996, 31, 34; Gehrlein MDR 00, 687). Die Rechtslage ist mithin nicht an Hand der zum Zeitpunkt des Erlasses der einstweiligen Rechtsschutzmaßnahme geltenden höchstrichterlichen Rspr zu beurteilen. Die vorstehenden Grundsätze gelten nicht nur dann, wenn der Verfügungsanspruch nicht bestanden hat, sondern ebenso, wenn der Verfügungsgrund oder sonstige Zulässigkeitsvoraussetzungen gefehlt haben. Gleiches trifft zu, wenn die gesetzliche Grundlage einer einstweiligen Verfügung vom BVerfG für nichtig erklärt wird (BGHZ 54, 76, 79 = NJW 70, 1459). Wird ein Schutzrecht (Patent), auf dem der Verfügungsanspruch beruhte, für nichtig erklärt, ist gleichfalls eine von Anfang an ungerechtfertigte Anordnung gegeben (BGHZ 165, 311, 316 = NJW-RR 06, 621; aA Zö/Vollkommer Rz 8). Eine von Anfang an ungerechtfertigte Anordnung liegt aber auch dann vor, wenn sich diese Voraussetzungen nicht beweisen lassen. Auch in diesem Fall fehlt es an einem durchsetzbaren Anspruch, so dass die einstweilige Rechtsschutzmaßnahme aus objektiver Sicht nicht hätte erlassen werden dürfen und sich ihre Anordnung als von Anfang an ungerechtfertigt ›erweist‹ (BGH NJW 88, 3268, 3269 [BGH 07.06.1988 - IX ZR 278/87]).
Der Anordnungsgläubiger (Bekl im Schadensersatzprozess) trägt die Beweislast dafür, dass sein Antrag auf Erlass der einstweiligen Rechtsschutzmaßnahme von Anfang an gerechtfertigt war (BGH NJW-RR 92, 988, 1001 – Roter mit Genever; Musielak/Voit/Huber Rz 3). Diese Beweislastverteilung ergibt sich aus den Besonderheiten des Anspruchs nach § 945, für dessen Beurteilung es maßgebend darauf ankommt, ob die von dem Anordnungsgläubiger in Anspruch genommenen Rechte ex post betrachtet den Erlass der einstweiligen Rechtsschutzmaßnahme rechtfertigen konnten (BGH NJW 88, 3268, 3269 [BGH 07.06.1988 - IX ZR 278/87]; NJW-RR 92, 988, 1001 – Roter mit Genever). Lagen die Voraussetzungen für den Erlass der Eilmaßnahme im Zeitpunkt der Anordnung vor und sind sie erst später infolge einer Veränderung der Umstände entfallen, soll die gerichtliche Anordnung nicht zu Unrecht ergangen sein. Gleiches gilt, wenn die Maßnahme mangels Darlegung oder Glaubhaftmachung des Anordnungsanspruchs oder Anordnungsgrundes an sich nicht hätte erlassen werden dürfen, die Voraussetzungen insoweit tatsächlich aber gegeben waren (BGH NJW-RR 92, 988, 1001 [OLG Hamm 03.03.1992 - 20 W 6/92] – Roter mit Genever).
II. Beurteilung der Schadensersatzhaftung durch den Schadensersatzrichter.
Rn 4
Er ist in bestimmtem Umfang an in Rechtskraft erwachsene Vorentscheidungen des Hauptsache- oder Anordnungsverfahren gebunden:
1. Rechtskräftige Entscheidung in der Hauptsache.
Rn 5
Bei seiner Beurteilung, ob die Anordnung der einstweiligen Verfügung als von Anfang an ungerechtfertigt iSd § 945 Alt 1 war, ist der Schadensersatzrichter an eine Entscheidung in der Hauptsache im Umfang ihrer Rechtskraft gebunden (BGHZ 122, 172, 175 – Verfügungskosten = NJW 93, 2685; NJW 88, 3268, 3269; NJW-RR 92, 998, 1001 – Roter mit Genever; NJW-RR 23, 1125 [BGH 21.04.2023 - V ZR 86/22] Rz 18; Karlsr GRUR 84, 156, 157). Diese Bindungswirkung beruht auf der materiellen Rechtskraft (§ 322 I) der Hauptsacheentscheidung. Sie erstreckt sich auf die Feststellungen zum Anordnungsanspruch, nicht aber auf die zum Anordnungsgrund, auf die es im Hauptsacheverfahren nicht ankommt (Teplitzky/Schwippert Kap 36 Rz 15). Gleiches gilt für andere Prozessvoraussetzungen des Anordnungsverfahrens, weil auch diese nicht Gegenstand des Hauptsacheverfahrens sind. Ist das Hauptsacheverfahren ohne eine der Rechtskraft fähige Entscheidung zum Streitgegenstand abgeschlossen worden, ist der Schadensersatzrichter bei der Prüfung des Schadensersatzbegehrens gem § 945 Alt 1 frei. Dies gilt auch für einen Kostenbeschluss gem § 91a, weil nach den übereinstimmenden Erledigungserklärungen der Parteien über die Hauptsache gerade nicht mehr zu entscheiden ist (BGH NJW-RR 92, 998, 1001 [BGH 28.11.1991 - I ZR 297/89] – Roter mit Genever).
2. Rechtskräftige Entscheidungen des Anordnungsverfahrens.
Rn 6
Der Schadensersatzrichter ist ferner an rechtskräftige Entscheidungen des Anordnungsverfahrens gebunden, die – bejahend oder verneinend – über den Anordnung...