I. Die Bedeutung des Streitgegenstandes.
Rn 14
Der Streitgegenstand oder der prozessuale Anspruch eines Verfahrens legt das Streitprogramm zwischen den beiden Parteien fest, er begrenzt also den Prozess seinem Gegenstand nach. Dadurch wird er für den Prozess zu einem zentralen Begriff. Am deutlichsten zeigen sich die Wirkungen des Streitgegenstandes bei der Festlegung des Umfangs der Rechtshängigkeit, bei der Beurteilung von objektiver Klagenhäufung und Klageänderung, beim Umfang der Rechtskraft, bei der Bestimmung des Streitwerts mit Auswirkungen für die sachliche Zuständigkeit und die Kosten des Rechtsstreits, bei der Bestimmtheit der Klage sowie tw auch bei der örtlichen Zuständigkeit. Zum aktuellen Stand der Diskussion Althammer, Streitgegenstand und Interesse, 12; Bruns ZZPInt 24 (19) 417; Stamm ZZP 129 (16) 25; RSG § 93.
II. Die Theorien zum Streitgegenstand.
Rn 15
Im modernen Recht lassen sich vielfältige theoretische Ansätze unterscheiden, wie der Streitgegenstand zu bestimmen sei und von welchen Faktoren dies im Einzelnen abhänge. Ein grdler Streit wird freilich darüber geführt, ob der Streitgegenstand materiell-rechtlich oder ob er prozessual zu bestimmen sei.
1. Die materiell-rechtlichen Theorien.
Rn 16
Der Gesetzgeber der CPO von 1877 war der Auffassung, der prozessuale Streitgegenstand sei identisch mit dem materiell-rechtlichen Anspruch. Diese Auffassung erklärt sich aus dem noch im 19. Jh bestehenden Missverständnis, die Begriffe des Bürgerlichen Rechts und des Zivilprozessrechts seien identisch. Heute wird eine solche Auffassung von niemandem mehr vertreten. Es ist klar, dass der Streitgegenstand weiter gefasst sein muss und verschiedene Anspruchsgrundlagen des materiellen Rechts umfassen muss. Deshalb haben neuere materiell-rechtliche Theorien versucht, die einzelnen Ansprüche zusammenzufassen und zu einem Anspruch iSd Prozessrechts auszugestalten, soweit mehrere Ansprüche entweder aus einem einheitlichen Lebenssachverhalt hervorgehen oder soweit diese Ansprüche zu einem einheitlichen Verfügungsobjekt (also zu dem einheitlichen Gegenstand einer Zession) verbunden sind. Auch diese neueren materiell-rechtlichen Versuche konnten keinen Erfolg haben, weil das Zivilrecht an die unterschiedlichen Anspruchsgrundlagen unterschiedliche Regelungen der Verjährung, des Haftungsumfangs und der Beweislastverteilung anknüpft, was der Bildung eines einheitlichen materiell-rechtlichen Anspruchs iRd Prozesses entgegensteht (Arens AcP 170, 392).
2. Prozessuale Theorien.
Rn 17
Die Schwierigkeiten des materiellen Rechts haben dazu geführt, einen eigenständigen prozessualen Begriff des Streitgegenstandes zu entwickeln, der sich völlig vom materiellen Recht löst. Der heute im Zivilprozessrecht absolut herrschende sog zweigliedrige Streitgegenstandsbegriff will diesen eigenständigen prozessualen Anspruch durch zwei Elemente bestimmen, nämlich durch den vor Gericht gestellten Antrag und den diesem Antrag zugrunde liegenden Lebenssachverhalt. Man spricht deshalb insoweit regelmäßig vom Klageantrag und vom Klagegrund als den beiden Elementen des Streitgegenstandes. Dieser zweigliedrige Streitgegenstandsbegriff fasst alle materiell-rechtlichen Anspruchsgrundlagen, die aus einem einheitlichen Lebenssachverhalt erwachsen sind, zu einem einheitlichen prozessualen Anspruch entsprechend dem Klageantrag zusammen und vermeidet damit Abhängigkeiten und Differenzierungen des materiellen Rechts (Habscheid Der Streitgegenstand im Zivilprozess und im Streitverfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit 56).
Aufbauend auf dieser Theorie wollte die Lehre vom sog eingliedrigen Streitgegenstandsbegriff das Schwergewicht allein auf den Klageantrag legen. Der Lebenssachverhalt soll nach dieser Auffassung nur zur Individualisierung des Antrags herangezogen werden (vgl Schwab, Der Streitgegenstand im Zivilprozess 1954). Die genaue Feststellung des Streitgegenstandes ist damit regelmäßig ein Problem der Auslegung des jeweiligen Klageantrags, wofür notwendigerweise auf die dem Antrag zugrunde liegenden und vor Gericht vorgebrachten Tatsachen zurückgegriffen werden muss. Dies führt einerseits dazu, dass im Ergebnis regelmäßig kein Unterschied zwischen dem zweigliedrigen und dem eingliedrigen Streitgegenstandsbegriff besteht. Andererseits hat sich durch diese Annäherung der eingliedrige Begriff letztlich nicht durchsetzen können (vgl Althammer ZZP 123, 163; ders Streitgegenstand und Interesse 12).
3. Relative Theorien.
Rn 18
In der Literatur zur Streitgegenstandsproblematik hat eine gewisse Tendenz zugenommen, den Streitgegenstand nicht mehr mit Hilfe von begrifflich-konstruktivem Denken im Sinne einer einheitlichen Lösung zu bewältigen, sondern die Festlegung des Streitgegenstandes je nach der Art des Prozesses und nach der Bewertung der dabei im Spiel befindlichen Parteiinteressen im Einzelfall zu ermöglichen. So ist überlegt worden, ob der Streitgegenstand vom Bestehen des Verhandlungs- oder Untersuchungsgrundsatzes abhängt (Jauernig Verhandlungsmaxime 1967). Teilweise wird der Streitgegenstandsbegriff je nach der Klageart getrennt (Zö/Vollkommer Einl Rz 82). Teilweise wird nach den Wirkungen zwischen der Bewe...