1. Begriff.
Rn 27
Bei der Sammlung des Prozessstoffes einschl der Beweisführung ist danach zu trennen, ob es Aufgabe der Parteien ist, den Tatsachenstoff in den Prozess einzuführen, die Beweisbedürftigkeit von Behauptungen herbeizuführen und die Beweise beizubringen. Dies ist Gegenstand des Beibringungsgrundsatzes (früher regelmäßig auch Verhandlungsmaxime genannt). Den Gegensatz bildet die Untersuchungsmaxime (Inquisitionsmaxime, Amtsermittlungsgrundsatz). Hier liegt die Verantwortung für den Prozessstoff letztlich beim Gericht, das weder bei der Einführung von Tatsachen noch bei der Beweiserhebung an Anträge, Bestreiten, Geständnisse oder übereinstimmenden Parteivortrag gebunden ist.
2. Beibringungsgrundsatz.
Rn 28
Der Zivilprozess ist vom Beibringungsgrundsatz geprägt. Es sind also allein die Parteien, die den tatsächlichen Stoff in der mündlichen Verhandlung vortragen. Das Gericht ist an diesen Vortrag gebunden und darf seiner Entscheidung nur die vorgebrachten Tatsachen zugrunde legen. Die Behauptung eines von den Parteien nicht vorgetragenen Sachverhalts durch das Gericht verstößt zugleich gegen Art 103 I GG (BGH NZG 09, 21). Die Parteien entscheiden ferner über die Notwendigkeit eines Beweises, indem sie Behauptungen entweder bestreiten oder durch ein Geständnis (§ 288) oder durch Nichtbestreiten (§ 138 Abs 3) das Gericht binden. Bei der Frage, wer die Beweisaufnahme veranlasst, ist zu trennen: der Zeugenbeweis wird nur auf Antrag durchgeführt, alle übrigen Beweise können (nicht: müssen) auch vAw erhoben werden (§§ 142, 143, 144, 448). Keine Durchbrechung des Beibringungsgrundsatzes stellt § 139 dar, der in allen seinen Varianten dem Gericht zwar auferlegt, die Parteien hinzuweisen, sie aufzuklären, Fragen zu stellen und die Probleme mit den Parteien zu erörtern. Diese sog materielle Prozessleitung erfasst aber nicht eine Ermittlung des Sachverhalts vAw oder ein Einbringen von Prozessstoff durch das Gericht in den Prozess (Prütting FS Musielak 04, 397). Ebenso wenig darf der Richter privates Wissen im Prozess verwerten.
Typische Ausprägung der Verhandlungsmaxime (Beibringungsgrundsatz) war früher ein Umkehrschluss aus § 616 I (Untersuchungsgrundsatz in Ehesachen). Der Sache nach ergibt sich heute eine vergleichbare Regelung aus § 127 FamFG iVm § 113 FamFG. Deutliche Ausprägungen des Beibringungsgrundsatzes sind die unter Präklusionsandrohung stehende Prozessförderungspflicht der Parteien (§§ 282, 296), die Möglichkeit eines Versäumnisurteils (§§ 330 ff), die Regelungen über das Geständnis (§§ 288 ff), ferner der Umkehrschluss aus § 291 (offenkundige Tatsachen) und § 293 (Beweis von Rechtsnormen). Zur modernen Rechtfertigung des Beibringungsgrundsatzes vgl Morell, Der Beibringungsgrundsatz, 2022.
3. Untersuchungsgrundsatz.
Rn 29
Der Untersuchungsgrundsatz galt bisher im 6. Buch der ZPO (Ehe- und Familiensachen). Ohne wesentliche Änderungen in der Sache gilt hierzu nun § 127 FamFG. Darüber hinaus gilt der Untersuchungsgrundsatz iRd Rechtsanwendung (iura novit curia sowie § 293). Ebenso galt und gilt der Untersuchungsgrundsatz im Aufgebotsverfahren (vgl früher § 952 III; heute § 439 I FamFG iVm § 26 FamFG). Die Rspr hat im Arzthaftungsprozess (BGH NJW 18, 239) und im Mietprozess (Deppenkemper jM 19, 310) die Darlegungslast so stark vermindert, dass dem Gericht eine der Amtsermittlung nahekommende Prüfung des Parteivortrags obliegt. Der EuGH verlangt neuerdings iRd Verbraucherschutzes eine Prüfung missbräuchlicher Klauseln vAw und erweitert diese Pflicht durch eine Ermittlung der Tatsachengrundlage vAw (EuGH v 19.12.19, JZ 20, 315 m Anm Kehrberger).
Keine Ausprägung des Untersuchungsgrundsatzes ist die materielle Prozessleitung des § 139 (s.o. Rn 28), keine Ausprägung ist ferner die iRd Sachurteilsvoraussetzungen vorgesehene Prüfung vAw (§ 56 I), die eine Rechtsprüfung darstellt und nicht zur Amtsermittlungspflicht führt.