Prof. Dr. Christian Katzenmeier
Rn 4
Aus dem Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 286 I 1) ergibt sich das Recht und die Pflicht des Richters, das Sachverständigengutachten in allen Punkten einer selbstständigen, eigenverantwortlichen Prüfung zu unterziehen. Richtigkeit und Vollständigkeit der dem Gutachten zugrunde gelegten Anknüpfungstatsachen sowie der vom SV aufgrund seiner Sachkunde festgestellten Befundtatsachen sind zu kontrollieren (s § 404a Rn 12 f) und die Schlussfolgerungen des SV auf ihre Überzeugungskraft hin zu prüfen. Dies gilt umso mehr, je schwieriger die zu beantwortende Fachfrage ist. Das Gericht hat sich die Entscheidung selbst zu erarbeiten und die Begründung selbst zu durchdenken, denn die rechtsprechende Gewalt ist den unabhängigen, nur dem Gesetz unterworfenen Richtern anvertraut (Art 92, 97 GG), sie dürfen sich vom SV nur helfen lassen (richtungsweisend BGHSt 8, 113 = NJW 55, 1642, 1643). Im Einzelfall kann es geboten sein, dass der Richter sich durch Fachliteratur unterrichtet, um sich in die Lage zu versetzen, ein Gutachten krit würdigen zu können (BGH NJW 93, 2378 [BGH 02.03.1993 - VI ZR 104/92]). Die Äußerungen des SV sind insgesamt auf Vollständigkeit, Schlüssigkeit sowie Widerspruchsfreiheit (in sich – gerade auch bei mehreren Äußerungen, §§ 411 III, 412 – und zu anderen, auch außergerichtlichen Gutachten) nachzuvollziehen und zu überprüfen (stRspr: BGH VersR 09, 499, 500; 09, 518, 519; 09, 817; NJW 14, 74, 76; VersR 15, 1293, 1294). Unklarheiten sind vAw zu beseitigen, zB durch gezielte Befragung (BGH NJW 10, 3230). Bei der inhaltlichen Beurteilung, etwa auch bzgl des Sachverstands des Gutachters und der Aktualität der angewendeten Methoden etc, ist zu beachten, dass das Gericht gerade deshalb ein Sachverständigengutachten eingeholt hat, weil es sich selbst nicht für ausreichend sachkundig hält (§ 403 Rn 5, s.a. § 412 Rn 3). Ggf ist eine Ergänzung oder Klarstellung (schriftlich und/oder mündlich) durch den SV (§ 411 III, s § 411 Rn 17–25) oder ein neues Gutachten durch denselben oder einen neuen SV einzuholen (s dazu § 412; BGH VersR 09, 499, 500; BVerwG NJW 09, 2614). Einwendungen der Parteien (s § 411 IV) sind – soweit nicht offensichtlich unbegründet – ernst zu nehmen und abzuklären. Schließlich hat das Gericht die für seine Überzeugung leitenden Gründe im Urt darzustellen (s.a. § 403 Rn 5 zu gerichtlicher Sachkunde). Dieses muss erkennen lassen, dass das Gericht das Vorbringen der Parteien zu den Ausführungen des SV zur Kenntnis genommen hat und diese in die Beurteilung Eingang gefunden haben. Eine besondere Begründungspflicht besteht auch etwa dann, wenn das Gericht von den Schlussfolgerungen des SV abweicht (vgl BGH VersR 15, 1293, 1294: die hierfür erforderliche Sachkunde ist aufzuzeigen). Zu divergierenden Gutachten s § 412 Rn 1, 4; s.a. allg zur Darstellung im Urt § 286 Rn 17. Allg zur Beweiswürdigung s § 286, zur Beweiserhebung s § 284 Rn 39–55, § 355; zum Prozessstoff § 285, zur möglichen Verwertung von Erkenntnissen des Gerichts über den SV aus früheren Verfahren s BGH NJW 93, 2382 [BGH 11.05.1993 - VI ZR 243/92]; zur eigenen Sachkunde des Gerichts und allg zum Ob eines Sachverständigenbeweises s § 403 Rn 1, 5 f; zur Nachprüfbarkeit durch höhere Instanzen s.u. Rn 15.