Prof. Dr. Christoph Thole
I. Schein- bzw Nichturteil.
Rn 11
Bei den so bezeichneten Urteilen liegt in Wahrheit gar kein Urt, sondern nur der bloße Anschein vor (Lüke ZZP 108, 428, 439 mwN; R/S/G § 62 Rz 12), sodass das ›Urteil‹ unbeachtlich und wirkungslos ist (RGZ 120, 243, 245; 133, 215, 221); jede Partei kann Fortsetzung des Verfahrens beantragen (Lüke ZZP 108, 428). Formelle Rechtskraft tritt nicht ein (RGZ 133, 215, 220 f). Ein Nichturteil liegt vor, wenn der Ausspruch bzw das Schriftstück nicht als Willensäußerung des Gerichts angesehen werden kann, weil es nicht von einem Richter oder nicht in Ausübung der Tätigkeit als Rechtspflegeorgan erlassen wurde, so zB, wenn ein ausgeschiedener Richter entscheidet (bea aber § 309 Rn 2, aA Jauernig DtZ 93, 173; Musielak/Musielak Rz 4) oder ein sonstiger Bediensteter des Gerichts, ein Richter in einer privaten Runde oder bei Gelegenheit einer Referendars-AG (Zö/Feskorn Rz 13; Musielak/Musielak § 300 Rz 4), nicht aber bei bloßen Besetzungsfehlern innerhalb des Spruchkörpers oder Gerichts. Auch die Mitwirkung eines ordnungsgemäß berufenen, aber nicht ordnungsgemäß vereidigten Richters führt nicht zu einem Scheinurteil und auch nicht zur Wirkungslosigkeit (Rn 12) (LAG Rheinland-Pfalz 10.8.22 – 7 Sa 374/21). An einem Urt fehlt es auch, wenn das Schriftstück noch gar keine autorative Kraft entfalten sollte, so bei Zustellung eines bloßen Entwurfs (BGH NJW 95, 404; Zweibr OLGZ 87, 371, 372; Frankf NJW-RR 95, 511 [OLG Frankfurt am Main 07.12.1994 - 17 U 188/93]; § 310 Rn 8) oder wenn in Fällen des § 310 III die verkündungsersetzende Zustellung fehlt; umgekehrt erlangt ein Urt Wirksamkeit, das entgegen § 310 I 1 nicht verkündet, sondern zum Zwecke der Verlautbarung, also mit autorativem Verbindlichkeitsanspruch zugestellt wird (BGH NJW 04, 2019, 2020 [BGH 12.03.2004 - V ZR 37/03]).
Das ›Schein-/Nichturteil‹ darf mit Rechtsmitteln angegriffen werden, um den Anschein zu zerstören (BGHZ 32, 370, 375 = NJW 60, 1763, 1764; BGH NJW 95, 404; 96, 1969, 1970). Die Rechtsmittelinstanz muss ohne Prüfung des Begehrens in der Sache aufheben und zurückverweisen (Zweibr OLGZ 87, 371, 373; Celle 29.11.23 – 14 U 75/23). Nach Einlegung des Rechtsmittels darf die Vorinstanz nicht mehr durch Erlass eines neuen Urteils entscheiden (R/S/G § 62 Rz 19).
II. ›Wirkungslosigkeit‹ bei schwersten Fehlern und wirkungsgemindertes Urteil.
Rn 12
Die von einem Gericht erlassenen Urteile sind grds wirksam, aber ggf angreifbar. In Ausnahmefällen kann der Fehler aber so gravierend sein, dass die Wirkungslosigkeit des Urteils gerechtfertigt ist. Der die Wirkungslosigkeit begründende Fehler muss offensichtlich sein (BGHZ 127, 74, 79 = NJW 94, 2832, 2833; Musielak/Musielak Rz 5). In diesen Fällen besteht normalerweise weder materielle Rechtskraft noch überhaupt Tatbestandswirkung, wohl aber formelle Rechtskraft und bei entsprechender Bestimmtheit des Urteils auch Vollstreckungsfähigkeit (Ddorf NJW-RR 95, 895 [OLG Düsseldorf 20.06.1994 - 5 W 27/94]; Musielak/Musielak Rz 7; Zö/Feskorn Rz 19; Jauernig Zivilurteil S 141 ff). Insofern ist die Bezeichnung als ›wirkungsloses Urteil‹ irreführend, denn häufig begründen Fehler nur die Unbeachtlichkeit einzelner Urteilswirkungen (im Sinne eines ›wirkungsgeminderten‹ Urteils); so, wenn die materielle Rechtskraft wegen der mangelnden Bestimmtheit der in einem Teilurteil beschiedenen Einzelforderungen unklar ist (BGHZ 124, 164, 166 = NJW 94, 460), sofern nicht die Widersprüchlichkeit das Urt insgesamt unverständlich macht (dann wirkungsloses Urt, BGHZ 5, 240, 244 f = NJW 52, 818, 819). § 318 gilt auch für wirkungslose Urteile. Das Urt beendet die Instanz; es kann mit Rechtsmitteln angegriffen werden. Wegen des Fehlens der materiellen Rechtskraft ist erneute Klage möglich. Auch Nebenentscheidungen können Wirkungen erzeugen, wenn ihnen nicht derselbe Mangel wie dem Hauptanspruch innewohnt.
Relevant sind folgende Fallgruppen (ausf Jauernig Zivilurteil S 150 ff):
Das Urt wird zwar von einem Gericht erlassen, das aber ggü der Partei wegen deren Exterritorialität oder wegen bestehender Sonderregeln (zB NATO-Truppenstatut) keine Gerichtsbarkeit beanspruchen darf (§ 18 GVG; R/S/G § 62 Rz 22). Bloße Verletzungen der Rechtswegzuständigkeit genügen nicht; erst recht nicht die Entscheidung einer den ordentlichen Gerichten zugewiesenen Streitsache durch Gerichte der fG (so noch BGHZ 29, 223, 228).
Wirkungslos ist das Urt, wenn das Gericht eine im deutschen Recht unbekannte oder gesetzes- oder sittenwidrige Rechtsfolge ausspricht (Oldbg MDR 89, 268), nicht aber ohne weiteres, wenn das Gericht das Kollisionsrecht falsch anwendet und nach Maßgabe eines ausländischen Statuts etwas anordnet, was dem deutschen Recht insoweit unbekannt ist; zur Abwehr dieser Rechtsfolgen greift der ordre-public-Einwand. Ein wirkungsloses Urt liegt auch dann nicht vor, wenn das Gericht zB bei einer Zahlungsklage die Sittenwidrigkeit des zugrunde liegenden Anspruchs verkennt, denn die Rechtsfolge (Zahlung) ist als solche und für sich genommen nicht sittenwidrig. Die bloße Unmöglichkeit der Leistungserbringung für den Beklagten begründet nicht die ...