Rn 1

Art 4 enthält die grundlegende Anknüpfungsregel für unerlaubte Handlungen. Diese wird durch die Möglichkeit der Rechtswahl (Art 14) sowie eine Reihe spezieller Anknüpfungsregeln (Art 5 ff) modifiziert. Art 4 I geht vom Recht des Staates, in dem der Schaden eintritt, aus; Abs 2 und 3 sehen Möglichkeiten für abweichende Anknüpfungen vor. Die Grundanknüpfung des Art 4 I trägt besonders den Interessen des Geschädigten Rechnung; die Interessen des Schädigers werden unter dem Gesichtspunkt der Wettbewerbsgleichheit aller Schädiger sowie insb über Art 17 teilw mitberücksichtigt. Schwächer ausgeprägt (wenngleich im Ansatz vorhanden, s nur MüKo/Junker Art 4 Rz 4) ist hingegen ein verhaltenssteuerndes Element, das der Präventionsfunktion des Haftungsrechts Rechnung trägt (krit zur Gesamtkonzeption zB Koziol/Thiede ZVglRWiss 07, 235 ff; Symeonides YbPrIntL 07, 149, 151 ff). Das zeigt sich bei der Haftung von Unternehmen für im Ausland begangene Menschenrechtsverletzungen, etwa durch menschenunwürdige Produktionsbedingungen, die regelmäßig nach dem Recht des ausländischen Erfolgsortes zu beurteilen ist (dazu und auch zu den Schwierigkeiten einer kollisionsrechtlichen Korrektur dieser Anknüpfung G Wagner RabelsZ 16, 717, 739 ff; Görgen Unternehmerische Haftung in transnationalen Menschenrechtsfällen 19, 177 ff; Bomsdorf/Blatecki-Burgert ZRP 20, 42, 43 f; Mittwoch RIW 20, 397, 399 f; Rudkowski RdA 20, 232, 233 f; Rühl in Reinisch/Hobe/Kieninger, Unternehmensverantwortung und Internationales Privatrecht 20, 89, 100 ff; Blach Konzerndeliktsrecht 22, 90 ff; für eine teilw abw Anknüpfungsmethode Wendelstein RabelsZ 19, 111, 131 ff; s aber auch Rn 12; nach einer Empfehlung des Europäischen Parlaments [2020/2129/(INL)] sollte eine eigenständige Anknüpfungsregel in einem neuen Art 6a geschaffen werden, nach der in erster Linie das nach Art 4 I bestimmte Recht anzuwenden wäre, es sei denn, der Anspruchsteller wählt das Recht des Staates, in dem das schadensbegründende Ereignis eingetreten ist, oder das Recht des Staates, in dem die Muttergesellschaft ihren Sitz hat bzw tätig ist; dieser Vorschlag hat sich aber nicht durchgesetzt, s KOM (22) 71 endg). Rechtstechnisch hat sich der europäische Gesetzgeber – anders als zunächst vom Europäischen Parlament favorisiert (ABl 06, C 157 E/371, 375) – für eine starre (und damit der Rechtssicherheit zuträgliche) Anknüpfung mit deutlich umgrenzten Auflockerungsmöglichkeiten entschieden, die sich letztlich auf das Prinzip der engsten Verbindung zurückführen lässt (s.a. BeckOK/Spickhoff Art 4 Rz 1).

 

Rn 2

Art 4 I weist bereits im einleitenden Halbsatz auf den Vorrang speziellerer Regelungen der VO hin. Berücksichtigt man weiterhin den Zusammenhang der drei Absätze der Vorschrift, ergibt sich folgende Prüfungsreihenfolge für Ansprüche aus unerlaubter Handlung: Nach der Prüfung etwaiger vorrangiger völkerrechtlicher Abkommen (Art 28) ist zu ermitteln, ob eine wirksame Rechtswahl iSd Art 14 vorliegt (sofern kein Ausschluss der Rechtswahlmöglichkeit nach Art 6 IV, 8 III greift). Danach sind die ggü Art 4 vorrangigen Sonderanknüpfungen der Art 5–9 zu prüfen. Anschließend ist Art 4 II als Spezialregelung zu Abs 1 zu untersuchen, danach die Grundanknüpfung gem Art 4 I. Diese beiden Anknüpfungen können im Einzelfall durch Art 4 III verdrängt werden, der aber erst nach Ermittlung der Anknüpfung nach Abs 1 oder 2 geprüft werden kann (s.a. Leible/Lehmann RIW 07, 721, 727; BeckOK/Spickhoff Art 4 Rz 2). Bei der Anwendung dieser Anknüpfungsregeln ist in Bezug auf Sicherheits- und Verhaltensregeln Art 17 im Blick zu behalten.

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