Rn 1

Die VO Nr 650/2012 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung u die Vollstreckung von Entscheidungen u öffentlichen Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses (EuErbVO) vom 4.7.12 (ABl. EU 12 L 201/107; berichtigt L 344/3) ist am 16.8.12 in Kraft getreten (Art 84 I). Sie gilt ab 17.8.15 (Art 84 II) als unmittelbar anwendbares Recht (vgl Art 3 Nr 1 lit e EGBGB). Allerdings wird eine vorherige Rechtswahl bereits von der Übergangsvorschrift des Art 83 honoriert. Fünf Formblätter (teilw mit Anl) sind festgelegt worden von DVO Nr 1329/2014 vom 9.12.14 (ABl EU 14 L 359/30; dazu Dorsel/Schall GPR 15, 36). Zur Durchführung dient das Internationale Erbrechtsverfahrensgesetz (IntErbRVG; näher Döbereiner NJW 15, 2449; Dutta ZEV 15, 493; Kroiß ErbR 15, 127; Wagner/Fenner FamRZ 15, 1668; Lange ErbR 16, 58). – Zum RegE Lehmann ZEV 15, 138, zum RefE Wagner/Scholz FamRZ 14, 714).

 

Rn 2

Die VO stellt europäisches Sekundärrecht dar (vgl Art 288 II AEUV) u steht im Zusammenhang m einer Reihe bereits bestehender Verordnungen (s Art 3 EGBGB Rn 16 ff). Sie stützt sich auf die Kompetenzgrundlage des Art 81 II lit c AEUV.

 

Rn 3

Der Inhalt der VO umfasst sowohl die Bestimmung des anwendbaren Rechts als auch das Verfahrensrecht; es handelt sich um eine sog gemischte VO (Peter MDR 15, 309 ff). Die VO regelt ihren Anwendungsbereich in Kap I (Art 1–3), sodann in Kap II die Zuständigkeit (Art 4–19, s Rn 8 f). In Kap III finden sich Vorschriften zum anzuwendenden Recht (Art 20–38). Kap IV behandelt die Anerkennung, Vollstreckbarkeit u Vollstreckung von Entscheidungen (Art 3958; s Rn 10 f), Kap V öffentliche Urkunden u gerichtliche Vergleiche (Art 5961). Das Kap VI regelt das Europäische Nachlasszeugnis (ENZ; Art 6273; s Rn 12 f). Kap VII enthält allg u Schlussbestimmungen (Art 74–84), darunter auch Vorschriften zur zeitlichen Anwendbarkeit (Art 83, 84).

 

Rn 4

Die Berechnung der in der VO vorgesehenen Fristen u Termine erfolgt einheitlich. Dafür gilt die VO (EWG, Euratom) Nr 1182/71 zur Festlegung der Regeln für die Fristen, Daten u Termine vom 3.6.71 (ABl. EWG 1971 L 124/1) (Erw 77).

 

Rn 5

Bei der Auslegung der EuErbVO ist iA eine verordnungsautonome Auslegung zu bevorzugen (EuGH C-277/20, FamRZ 21, 1825 Anm Wendland = ErbR 21, 1026 m Aufs Rieländer, 1016 = ECLI:EU:C:2021:708 Rz 29; BGH FamRZ 21, 802 Anm Fornasier = ErbR 21, 516 Anm Mankowski = NJW 21, 1159 Anm Zimmermann Rz 18; zur Vorabentscheidung Wagner NJW 17, 3755, 3756). Es gelten die allg Regeln des Unionsrechts für die Auslegung von Sekundärrecht. Wertvolle Hinweise enthalten die ausführlichen Erwägungsgründe, die auch Klarstellungen für die bei der Entstehung umstrittenen Vorschriften enthalten. IÜ ist der Zusammenhang m anderen europäischen Verordnungen, ihrer Begrifflichkeit u dem Fallrecht des EuGH zu wahren. Bei der Anwendung der VO sind auch die Grundrechte u Grundsätze, die mit der Charta der Grundrechte der EU anerkannt wurden, zu achten (Erw 81). Alle Sprachfassungen der VO sind gleichermaßen verbindlich. Das Verständnis mancher Textpassage fällt jedoch leichter, wenn man berücksichtigt, dass die Endfassung in erster Linie in englischer Sprache ausgearbeitet wurde.

 

Rn 6

Fragen des AT werden von der EuErbVO nur teilw angesprochen (näher Looschelders FS Coester-Waltjen [15], 531 ff), so zB die Anpassung in Art 31. Erw 26 gestattet den MS allg, gg die Gesetzesumgehung (fraus legis; fraude à la loi) vorzugehen. Auch bei der Form soll ein ›betrügerisch geschaffenes grenzüberschreitendes Element‹ außer Betracht bleiben (Erw 52 zu Art 27). Von Gesetzesumgehung spricht man bei einer gezielten Schaffung bzw. Veränderung der maßgeblichen Anknüpfungstatsachen mit dem Ziel, das an sich anwendbare Sachrecht zu umgehen u zur Anwendbarkeit eines anderen (günstigeren) Sachrechts zu gelangen. Die Gesetzesumgehung ist gesetzlich nicht geregelt. IA bleibt aber eine bestimmte Sachlage nicht wegen Gesetzesumgehung unbeachtlich (MüKo/Dutta vor Art 20 EuErbVO Rz 66). Eine Korrektur der gesetzlich vorgesehen Anknüpfung kommt regelmäßig nicht in Betracht (s Art 3 EGBGB Rn 43). Zu unterscheiden hiervon ist die bloße Simulation, bei der der betreffende Sachverhalt nur vorgetäuscht wird. Es kommt dann auf die wirkliche Sachlage an (vgl MüKo/von Hein Einl IPR Rz 386). Es ist allerdings damit zu rechnen, dass in anderen EU-Staaten in größerem Umfang mit der Gesetzesumgehung argumentiert wird.

 

Rn 7

Die Anknüpfung der Vorfrage (dazu Art 3 EGBGB Rn 46 ff) ist nicht geregelt. Eine einheitliche Haltung zur Vorfragenproblematik im europäischen Kollisionsrecht gibt es noch nicht (s Solomon FS Spellenberg [10], 355 ff; Gössl ZfRV 11, 65 ff). Die Lösung ist für den jeweiligen kollisionsrechtlichen Zusammenhang zu finden. Häufig wird dafür eine selbstständige Anknüpfung vorgeschlagen (dafür grds Süß DNotZ 18, 742, 746; NK/Looschelders Art 1 Rz 23; dagegen für eine unselbstständige Anknüpfung nach dem Kollisionsrecht des für die Hauptfrage maßgeblichen Rec...

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