Rn 3
Art 12 enthält ein kompliziertes System von Anknüpfungsregeln, deren Verhältnis zueinander tw str ist. Auf jeden Fall ist vorrangig eine Rechtswahl iSd Art 14 zu prüfen, danach eine Anknüpfung nach Art 12 I und zuletzt Art 12 II (die Abgrenzung zu Art 4 erfolgt bereits bei der Qualifikation, s.o. Rn 2). Das Verhältnis der Anknüpfungsregeln innerhalb des Art 12 II ist str; nach hM handelt es sich um eine Anknüpfungsleiter (zB G Wagner IPRax 08, 1, 12; BeckOK/Spickhoff Art 12 Rz 9; Grüneberg/Thorn Art 12 Rz 4; NK-BGB/Budzikiewicz Art 12 Rz 15; BeckOGK/Schinkels Art 12 Rz 10; Staud/Maultzsch Art 12 Rz 73), nach aA wegen des von Art 4 abweichenden Wortlauts (›oder‹) um gleichrangige Anknüpfungen (Lüttringhaus RIW 08, 193, 196f). Betrachtet man den Gesamtzusammenhang, ist der hM zu folgen, weil die Ausweichregel nach Art 12 II lit c nicht ohne die vorangegangenen Regelungen zu betrachten ist und die Einleitung ›wenn‹ in Art 12 II lit b trotz des vorangegangenen ›oder‹ für einen Vorrang der Anknüpfung an das Recht eines gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalts spricht. Das mindert zugleich die Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen Art 12 und Art 4 bei Grenzfällen iRd Qualifikation (so auch BeckOK/Spickhoff Art 12 Rz 9). Daraus ergibt sich folgende Prüfungsreihenfolge: Rechtswahl (Art 14), Anknüpfung an das tatsächliche oder hypothetische Vertragsstatut (Art 12 I), Recht des gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalts (Art 12 II lit b), Recht des Erfolgsortes (Art 12 II lit a), die beiden letzten jedoch nur, sofern nicht eine (ggü lit a und b vorrangige) offensichtlich engere Verbindung zum Recht eines anderen Staates vorliegt (Art 12 II lit c).
Rn 4
Eine etwaige Rechtswahl iSd Art 14 muss sich gerade auf Ansprüche aus Verschulden bei Vertragsverhandlungen beziehen (Grüneberg/Thorn Art 12 Rz 5). Ist das nicht der Fall, kann über Art 12 I das Vertragsstatut zur Anwendung kommen, so dass sich eine Rechtswahl, welche die culpa in contrahendo nicht erfasst, dennoch auf die Anknüpfung auswirken kann. Trotzdem sollte die vorvertragliche Haftung in Rechtswahlvereinbarungen ausdrücklich mit aufgenommen werden, weil für das Vertragsstatut weitergehende Einschränkungen der Rechtswahl gelten (zB nach Art 6 ROM I) als iRd Art 14. Zudem ist die Rechtswahl zum Vorvertrag abzugrenzen, auf den Art 3 ff ROM I anwendbar wären (Lüttringhaus RIW 08, 193, 199).
Rn 5
Art 12 I bringt das nach Art 3 ff ROM I zu ermittelnde tatsächliche oder hypothetische Vertragsstatut (und damit ggf auch eine schutzbedürftigen Personen, wie zB Verbrauchern, besonders nahe stehende Rechtsordnung, Volders YbPrIntL 07, 127, 133) zur Anwendung. Problematisch ist dabei va, in welchem Umfang und nach welchen Kriterien ein hypothetisches Vertragsstatut zu ermitteln ist und wann dies (iSd Art 12 II) nicht mehr möglich ist. Eine hypothetische Rechtswahl für den Vertrag wird sich in vielen Fällen konstruieren lassen, auch wenn die Anknüpfungsregeln nach Art 4 ROM I im Einzelfall leerlaufen; zweifelhaft ist nur, ob dies immer interessengerecht ist. Man sollte auch hier (wie bei Art 14 sowie bei Art 3 ROM I) Wert darauf legen, dass sich die hypothetische Rechtswahl ›mit hinreichender Sicherheit‹ aus den Umständen des Falles ergibt, wofür zB Verhandlungssprache und -ort allein nicht ausreichen dürften (s.a. Grüneberg/Thorn Art 12 Rz 5; NK-BGB/Budzikiewicz Art 12 Rz 57).
Rn 6
Folglich können Fälle eines Verschuldens bei Vertragsverhandlungen allenfalls in einem noch sehr vertragsfernen Stadium über Art 12 II zu beurteilen sein. Sie dürften jedoch wegen des in Erw 13 vorausgesetzten unmittelbaren Zusammenhangs mit Vertragsverhandlungen selten sein. Auch sonst lassen sich Anwendungsfälle des Art 12 II im Zweipersonenverhältnis kaum konstruieren (zu einzelnen Beispielen Heiss/Loacker JBl 07, 613, 640 f; Ersoy Die culpa in contrahendo im europäischen Internationalen Privat- und Verfahrensrecht 20, 227 ff). Der Hauptanwendungsbereich des Art 12 II dürfte daher bei der Dritthaftung aus cic liegen (BeckOK/Spickhoff Art 12 Rz 6, 8; Lüttringhaus RIW 08, 193, 198; aA für die Gutachterhaftung Schinkels JZ 08, 272, 279; BeckOGK/Schinkels Art 12 Rz 57: Art 12 I analog), denn in diesen Fällen erscheint eine Anknüpfung an das (im Verhältnis zwischen anderen Personen geltende) Vertragsstatut nach Art 12 I jedenfalls als Regelanknüpfung nicht sinnvoll (im Einzelfall kann dieses Vertragsstatut über Art 12 II lit c zur Anwendung gebracht werden, wenn es dem Dritten zurechenbar ist, Grüneberg/Thorn Art 12 Rz 5). Für die einzelnen Anknüpfungsregeln nach Art 12 II gilt weitgehend das zu Art 4 Ausgeführte (Art 4 Rn 4 ff; s.a. Ersoy Die culpa in contrahendo im europäischen Internationalen Privat- und Verfahrensrecht 20, 229 ff). Unklar ist jedoch, warum in Art 12 II lit b mit dem Eintritt des schadensbegründenden Ereignisses ein anderer zeitlicher Bezugspunkt gewählt wurde als bei Art 4 II. Ob damit in Fällen eines Verschuldens bei Vertragsverhandlungen eine einfachere Anknüpfung ermöglicht wird, ist zwe...