Rn 14
Große Bedeutung hat Art 4 für Straßenverkehrsunfälle, für die sich das Europäische Parlament mit seinem Vorschlag einer Sonderregelung (ABl 06, C 157 E/317, 375; zust zB G Wagner IPRax 06, 372, 379) nicht durchsetzen konnte; lediglich eine Überprüfung durch die Kommission ist in Art 30 I 3 ii vorgesehen. Hier sind zunächst etwaige Spezialregelungen in internationalen Übereinkommen zu beachten (dazu Art 28), zudem internationales Einheitsrecht (insb die Haftungseinschränkungen im Transportrecht nach dem CMR, BGBl 62 II 12). Noch nicht abschließend geklärt ist das Verhältnis zur Kraftfahrzeughaftpflicht-RL 2009/103/EG, ABl 09, L 263/11 (zuletzt geändert: ABl 21, 430/1). Der englische Court of Appeal ging von einem Vorrang von Ausführungsvorschriften zur RL ggü Art 4 aus (Jacobs v Motor Insurers Bureau [2010] EWCA Civ 1208); fraglich ist aber, ob es sich bei den zugrundeliegenden Richtlinienregelungen um vorrangige Kollisionsnormen iSd Art 27 handelt. Da zudem etliche EU-Mitgliedstaaten Vertragsstaaten des Haager Übereinkommens über das auf Straßenverkehrsunfälle anzuwendende Recht (abgedr zB bei Staud/v Hoffmann Art 40 Rz 178) sind, können Anknüpfungsdivergenzen auftreten (Grüneberg/Thorn Art 4 Rz 18; Kadner Graziano RabelsZ 09, 1, 26 ff; Thorn/Cremer IPRax 20, 177, 179; Franke Das Internationale Privatrecht der europäischen Verordnungen und Drittstaatsverträge 22, 54 ff), die evtl über Art 4 III einzugrenzen sind (v Hein FS Kropholler 553, 569). Weil Deutschland dieses Übereinkommen nicht ratifiziert hat, wenden deutsche Gerichte Art 4 an. Sofern keine Rechtswahl vorliegt, ist nach Art 4 II in erster Linie das Recht eines gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalts der Unfallbeteiligten maßgeblich (zB Saarbr 4 U 33/18; LG Kleve IPRspr 12 Nr 44; englischer High Court: Winrow v Hemphill [2014] EWHC 3164: Anwendung deutschen Rechts als Recht des gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalts sogar bei britischer Staatsangehörigkeit beider Beteiligten und später in England eingetretenen Schadensfolgen), nachrangig gem Art 4 I das Recht des Unfallortes als des Ortes, an dem der Schaden eintritt (s zB BGH NZV 21, 310 [BGH 03.03.2021 - IV ZR 312/19] Rz 20; Saarbr BeckRS 19, 7852; Hamm NJW-RR 21, 898, 899 [AG Bad Kissingen 09.03.2021 - 72 C 383/20]). Da dieser idR mit dem Handlungsort zusammenfällt (Unfall als Platzdelikt), dürfte sich ggü den früheren deutschen Anknüpfungsregeln iE keine wesentliche Änderung ergeben. Das gilt auch für die Anwendung der Ausweichklausel nach Art 4 III, die zB bei Beförderungsverträgen, Mitfahrverhältnissen oder Gruppenreisen, nicht jedoch ohne Weiteres bei familienrechtlichen Beziehungen zum Tragen kommen kann (s.o. Rn 11). Auch bei Massenunfällen sollte nicht pauschal über Art 4 III eine einheitliche Anknüpfung vorgenommen werden (s nur Staudinger SVR 05, 441, 443 f; Junker JZ 08, 169, 176; Rieländer RabelsZ 17, 344, 364 ff; Erman/Stürner Anh Art 42 EGBGB Art 4 ROM II Rz 29; Grüneberg/Thorn Art 4 Rz 14; aA G Wagner IPRax 06, 372, 378; BeckOK/Spickhoff Art 4 Rz 20; NK-BGB/Lehmann Art 4 Rz 169; Czaplinski Das internationale Straßenverkehrsunfallrecht nach Inkrafttreten der ROM II-VO 15, 217 ff). Zu berücksichtigen sind Art 17 in Bezug auf Verkehrsregeln, Art 18 für die Anknüpfung von Direktansprüchen gegen den Versicherer sowie Erw 33 für die Schadensberechnung. Erw 33 ist ein Überbleibsel der Kontroversen im Rechtssetzungsverfahren und schützt die Opfer von Straßenverkehrsunfällen durch Berücksichtigung auch von tatsächlichen Umständen im Staat des gewöhnlichen Aufenthalts des Geschädigten bei der Schadensberechnung. Rechtstechnisch geschieht dies durch Berücksichtigung als Auslandssachverhalt (Grüneberg/Thorn Art 15 Rz 5; jetzt auch Wurmnest ZVglRWiss 16, 624, 630; aA Kadner Graziano RabelsZ 09, 1, 17 f: ordre public; ausf Czaplinski Das internationale Straßenverkehrsunfallrecht nach Inkrafttreten der ROM II-VO 15, 81 f mwN).
Rn 15
Bei Eisenbahnunfällen sind vorrangig das Übereinkommen v 9.5.80 über den Internationalen Eisenbahnverkehr (COTIF) mit seinen beiden Anhängen (BGBl 85 II, 132, 178, 224; konsolidierte Fassung: BGBl 02 II, 2149) sowie die EG-VO 1371/2007 über die Rechte und Pflichten der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr (ABl 07, L 315/14) zu berücksichtigen. Ergänzend ist Art 4 anzuwenden; bei Fehlen einer Rechtswahl dürfte häufig eine vertragsakzessorische Anknüpfung nach Art 4 III in Betracht kommen (s.a. BeckOK/Spickhoff Art 4 Rz 36).
Rn 16
Für Schiffsunfälle ist ebenfalls vorrangiges internationales Einheitsrecht zu beachten (dazu insb Hartenstein TranspR 08, 143 ff; Basedow RabelsZ 10, 118, 122 ff; Staud/v Hoffmann Art 40 Rz 209 ff; MüKo/Junker Art 4 Rz 125 ff; Etzkorn Der Schiffszusammenstoß unter Beteiligung autonom fahrender Schiffe 22, 386 ff). Weiterhin kommt bei Fehlen einer Rechtswahl für Beförderungsschäden häufig eine vertragsakzessorische Anknüpfung nach Art 4 III in Betracht (Basedow RabelsZ 10, 118, 120). Der Ort des Schadenseintritts iSd Art 4 I richtet sich danach, in wel...