Prof. Dr. Eckart Brödermann
Rn 3
Haben die Parteien eines ab dem 17.12.09 (Art 28) geschlossenen Vertrages keine Rechtswahl nach Art 3 vereinbart oder ist eine solche unwirksam, bestimmt Art 4 das auf schuldrechtliche Verträge anzuwendende Recht. Er wird auch als die ›zentrale Auffangnorm des internationalen Vertragsrechts‹ bezeichnet (Staud/Magnus Art 4 Rz 16). Dabei folgt Art 4 dem Grundsatz der objektiven Anknüpfung. Vom Anwendungsbereich des Art 4 ausgenommen sind die in Art 5–8 separat geregelten Vertragstypen Beförderungs-, Verbraucher-, Versicherungs- und Arbeitsvertrag.
Rn 4
Als Nachfolgenorm zu Art 4 EVÜ bzw ex Art 28 EGBGB (s www.pww-oe.de) stellt Art 4 die markanteste Neuerung durch die ROM I dar (Max-Planck-Institut, RabelsZ (07), 225, 255), obwohl letztlich nicht alle angestrebten Änderungen übernommen worden sind (Mankowski IHR 08, 133). Das Gerüst des ex Art 28 EGBGB – mit der Grundregel der engsten Verbindung in ex Art 28 I EGBGB, konkretisiert durch die Vermutungen der II–IV und korrigiert über die Ausweichklausel des V (vgl ex Art 28 EGBGB 7. Aufl Rz 2) – blieb in seiner bisherigen Form nicht mehr bestehen. Art 4 IV hält lediglich hilfsweise am Grundsatz der engsten Verbindung fest, der früher die objektive Anknüpfung im Kollisionsrechtssystem des EVÜ zentral beherrschte (ex Art 28 I). Vorrangig gelten die Anknüpfungsregeln des I lit a–h für bestimmte Vertragstypen. Sie folgen zwar mehrheitlich (Leible/Lehmann RIW 08, 528, 535), nicht aber ausnahmslos (so zB I lit e, s Rn 14) dem Anknüpfungskriterium des Sitzes des Erbringers der charakteristischen Leistung (vgl ex Art 28 II EGBGB). Im Gegensatz zu ex Art 28 II EGBGB handelt es sich gerade nicht um Vermutungen, sondern um feste Anknüpfungsregeln für spezifizierte Vertragsarten (mit einer gewissen Starre im Vergleich zum EVÜ). Da ROM I aber auf dem Grundsatz der engsten Verbindung beruht, kann Art 4 auch in Schiedsverfahren nach deutschem Schiedsrecht zur Ausfüllung der ›engsten Verbindungen‹ iSv § 1051 II ZPO (s Art 1 Rn 21) herangezogen werden.
Rn 5
Unterfällt der Vertrag keiner der in I typisierten Vertragsarten oder liegt ein aus mehreren Vertragstypen zusammen gesetzter Vertrag vor, bestimmt sich das anzuwendende Recht nach II. Wiederum ohne Vermutungscharakter ist danach der gewöhnliche Aufenthalt des Erbringers der charakteristischen Leistung maßgebliches Anknüpfungsmerkmal (vgl ex Art 28 II EGBGB). Die nach I oder II gefundenen Ergebnisse können im Einzelfall nach III korrigiert werden. Hiernach ist bei einer ›offensichtlich engeren Verbindung‹, die ›sich aus der Gesamtheit der Umstände ergibt‹, dieses offensichtlich nähere Recht anzuwenden. Für alle nicht von I und II erfassten Fälle gilt der von der Grundregel in ex Art 28 I EGBGB zur Auffangnorm (ebenso Magnus IPRax 10, 27, 38: ›Auffangklausel‹; weiter Grüneberg/Thorn Art 4 Rz 2: ›Generalklausel‹) in Art 4 IV deklassierte Grundsatz der engsten Verbindung.
Rn 6
IÜ ist zu beachten, dass Art 4 – anders als ex Art 28 IV EGBGB – keine Aussage zu Güterbeförderungsverträgen (nunmehr Art 5) und auch nicht zu anderen besonderen Vertragstypen (Verbraucher-, Versicherungs- und Individualarbeitsverträgen, Art 6–8) trifft. Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthaltes nach Art 4 I, II ist nun in Art 19 legal definiert und mit diesem in Zusammenhang zu lesen (Magnus IPRax 10, 27, 35). Neu ist auch, dass der Gesamtvertrag bei Anwendung von Art 4 zwingend einer einheitlichen Rechtsordnung unterstellt werden muss, eine Aufspaltung des Vertragsstatuts nicht mehr zulässig ist (Leible/Lehmann RIW 08, 528, 536). Auch Haupt- und Änderungsverträge sind jeweils gesondert zu bewerten, allerdings unter Berücksichtigung des Gesamtzusammenhanges mit anderen Verträgen (vgl Erw 20 2 zu III und Erw 21 2 zu IV). Die enge Verbindung zum Hauptvertrag wird nur subsidiär relevant (Ferrari/Leible/Ferrari 58, 73).
Rn 7
Die Neuregelung der objektiven Anknüpfung in Art 4 bezweckt eine Erhöhung an Rechtssicherheit der Vertragsparteien (Begründung zum ROM I (KOM [2005] 650, 6). Insb die Normierung fester Anknüpfungsregelungen in I und II soll der Entscheidungsfindung dienen, ob von der Rechtswahl nach Art 3 bewusst Gebrauch gemacht werden möchte (Begründung zum ROM I, KOM [2005] 650, 6). Als Hilfe für die Praxis und Beitrag zur Rechtsklarheit wurde I begrüßt (Clausnitzer/Woopen BB 08, 1798, 1800). Wo Rechtssicherheit geschaffen wird, kann sie jedoch mit der Flexibilität der Norm sowie der Einzelfallgerechtigkeit in Konflikt geraten. Art 4 ist deshalb Gegenstand kontroverser Diskussion (MPI RabelsZ (07), 225, 256 ff, HP/Spickhoff Art 4 Rz 3f). Die Rechtssicherheit geht zulasten des Prinzips der engsten Verbindung (Brödermann/Rosengarten/Brödermann 8. Aufl Rz 35f). Für eine rechtsvergleichende Einordnung von Art 4 s Rauscher/Thorn Art 4 Rz 6–7b.