Rn 2
Die Begriffsbestimmung in I ist an das die Grundfreiheiten betreffende EuGH-Urt in Arblade Rs C-369/96, Slg 1999, I-8453, angelehnt, das die Definition von Francescakis aufgegriffen hat (vgl W.-H. Roth AcP 220 (2020) 458, 512; Calliess/Renner/Renner Art 9 Rz 9). Infolge der Einfügung des Wortes ›insb‹ ist die Wahrung der ›politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Organisation‹ aber keine abschließende Aufzählung (Th. Pfeiffer EuZW 08, 622, 628). Eine Erledigung der vielen Streitigkeiten zum Begriff Eingriffsnorm wird man damit gleichwohl nicht erwarten können (zutr, aber zu eng Mankowski IHR 08, 147). Die Definition bringt wohl einen europäischen Begriff der Eingriffsnorm mit sich, es wird sich um hinreichend gewichtige Regelungen handeln müssen (Th. Pfeiffer EuZW 08, 622, 628; Bonomi in: Cashin Ritaine/Bonomi, Le nouveau règlement, 08, 225: ›nouvelle notion communautaire‹; Martiny ZEuP 10, 747, 776), doch kommt es nach dem Wortlaut auf die Sicht des Staates an, von welchem die fragliche Norm herrührt. Daher bestimmt der Staat, nicht Art 9, ob die Norm Eingriffsnorm sein soll (klar Plender/Wilderspin 12–011f). Eine gewisse Rahmenkontrolle durch den EuGH scheint jedoch denkbar (erwartungsvoll Bonomi in: Cashin Ritaine/Bonomi 10 f; auch Hauser Eingriffsnormen, 2012, 14 ff; für aktivere Rolle Kühne FS Wegen 451, 460, 462; schon zum Entwurf Thorn in: Ferrari/Leible, Ein neues internationales Vertragsrecht für Europa, 07, 129, 136 ff). Die Grundfreiheitenkontrolle (s.u. Rn 47) ist etwas anderes (richtig Thorn ebd). Der EuGH fordert eine ausführliche Analyse von Wortlaut, allgemeiner Systematik, Telos und Entstehungszusammenhang (Rs C-149/18 – Da Silva Martins, EuZW 19, 134 = ECLI:EU:C:2019:84 Rz 30 f; schon C-184/12 – Unamar Rz 50 EuZW 13, 956 = ECLI:EU:C:2013:663). Faktisch haben die nationalen Gerichte bisher das letzte Wort (vgl belg Cass in Sachen Unamar, dazu Remien FS Kronke [20], 447, 448 Rz 18). Normen, die rein private Interessen schützen, werden durch die Definition wohl ausgeschlossen (Cheshire/North/Fawcett Private International Law, 08, 739; MüKo/Sonnenberger 4. Aufl Einl IPR Rz 44), nicht aber jeder Individualschutz (nach der Unamar-Entscheidung des EuGH W.-H. Roth FS E. Lorenz 421, 435; Schilling ZEuP 14, 843, 848, 859; differenzierend Callies/Renner Art 9 Rz 12; vorsichtig Lüttringhaus IPrax 14, 146, 148), oder automatisch alles Sonderprivatrecht (Freitag IPRax 09, 112; Bonomi 227 ff; unklar Garcimartín Alférez EuLF 08, I-61, I-77 Nr 75; vgl auch Thorn ebda 139 zum Entwurf). Dies stünde sonst kaum im Einklang mit dem Ingmar-Fall (dazu Rn 18) und der Sicht in manchen Mitgliedstaaten (vgl Bonomi 228f).
Rn 3
Problematisch ist das Verhältnis zur besonderen Verbraucherkollisionsnorm des Art 6, denn auch Verbraucherschutzvorschriften können uU unter Art 9 fallen (zum EGBGB schon BTDrs 10/503/Giuliano 60; ferner etwa W.-H. Roth in Internationales Verbraucherschutzrecht 35, 43 ff; einschränkend Junker IPRax 00, 65, 71; weit infolge RL-Auslegung Hoffmann/Primaczenko IPRax 07, 173; aA aber v Bar/Mankowski Rz 4/94). In der VO ist eine Klarstellung leider unterblieben – obwohl deutsche und französische Höchstgerichte unterschiedliche Lösungen entwickelt haben (ebda, auch Pelegrini Rev Lamy dr des aff 08, 71, 75; Plender/Wilderspin 12–015; vgl Kuipers/Migliorini European Review of Private Law 11, 187, 188). Mit der Fassung des neuen Art 9 wird man dieses Schweigen wohl nicht erklären können (anderes erwägend Pelegrini Rev Lamy dr des aff 08, 71, 75f). In Deutschland verbreitet ist die Ansicht, privatschützendes Verbraucherrecht könne nach Art 9 nun nicht mehr Eingriffsnorm sein (MüKo/Sonnenberger 4. Aufl Einl IPR Rz 44; MüKo/Martiny Art 9 Rz 15 ff, 88; offener Martiny ZEuP 10, 747, 776 ff; Ringe in: jurispk Art 9 Rz 12f) bzw Art 6 gehe vor (Grüneberg/Thorn Art 9 Rz 8). Allerdings wird auch darauf hingewiesen, der EuGH habe bei den Grundfreiheiten den Verbraucherschutz als zwingende Erwägung des Allgemeininteresses anerkannt (vgl Plender/Wilderspin 12–013). Art 9 sei offen und dem Art 6 nicht nachgeordnet (dies 12–040 ff). Der umfassendere Anwendungsbereich des Art 6 dürfte die Bedeutung des Art 9 für den Verbraucherschutz jedenfalls herabsetzen (Bonomi in: Cashin Ritaine/Bonomi 222), aber die Erledigung der bisherigen Kontroversen scheint fraglich. Nach hier vertretener Ansicht kann eine Verbraucherschutzvorschrift ausnahmsweise Eingriffsnorm sein, wenn sie über Marktverhaltensregeln hinaus Sozialschutz bezweckt. Einzelne fordern ein Wort des EuGH (Kuipers/Migliorini ERPL 11, 187).
Rn 4
Nach Ansicht des BGH bestand ein Vorrang der Verbraucherkollisionsnorm. Dieser galt, wenn der Inlandsbezug der Anbahnungssituationen des ex Art 29 nicht erfüllt ist (BGHZ 123, 380, 390; Naumbg OLGR 99, 172; Ddorf MDR 00, 575; s ex Art 29 EGBGB 7. Aufl Rz 15 ff; W.-H. Roth in Internationales Verbraucherschutzrecht 35, 49). Eine Anwendung der Eingriffsnormregelung könne erwogen werden, wo sich die Regelung der Verbraucherkol...